UNHCR kritisiert EU-Türkei-Vereinbarung

TürkeiNoch ist es nur eine Skizze – doch schon jetzt ruft das sich abzeichnende Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei Kritiker auf den Plan. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR), zum Beispiel. Vincent Cochetel leitet das Europa-Büro der Organisation; er sagt im Interview mit Radio Vatikan von Genf aus:

„Wir kennen noch keineswegs die Details und die Tragweite der Abmachung. In diesem Stadium muss man noch vorsichtig sein. Allerdings haben wir schon einen konkreten Punkt, der uns beunruhigt. Da geht es darum, dass jeder Migrant, der eine griechische Insel erreicht, wieder in die Türkei zurückgeschickt werden soll – ohne eine Einzelfalluntersuchung.“

Angeboten hat das beim Brüsseler Gipfel vom Montag der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu: Ankara würde alle Personen wieder aufnehmen, die irregulär über die Ägäis nach Griechenland übersetzen – egal ob das Kriegsflüchtlinge sind oder Wirtschaftsmigranten. Jeden Flüchtling ohne Ausnahme. Hintergrund ist, dass die EU und die Türkei zugleich legale Möglichkeiten der Einreise für jene ermöglichen wollen, die ein Anrecht auf Schutz haben.

Die Kritik aus Sicht des UNO-Flüchtlingshilfswerks fasst Cochetel so zusammen: „Das sind in erster Linie Menschen, die aus Kriegsgebieten oder aus Gegenden flüchten, in denen Menschenrechte verletzt werden: Syrien, Irak, Afghanistan. Mehr als 91 Prozent der Flüchtlinge kommen aus diesen drei Ländern. Man muss also extrem vorsichtig sein und kann nicht einfach sagen: Diese Menschen können wir in die Türkei zurückschicken, und die Türkei ist ein sicherer Drittstaat für alle. Da braucht man jedenfalls Sicherheitsgarantien und Prozeduren, um die Befürchtungen von jedem einzelnen dieser Menschen auf ihre Berechtigung hin zu überprüfen!“

„Das widerspräche dem europäischen Recht“

In welcher Form solche Sicherungen in den EU-Türkei-Deal eingebaut werden können, das müssten die nächsten Tage lehren. EU-Ratspräsident Donald Tusk muss binnen kurzer Zeit bis zum nächsten Sondergipfel die Einzelheiten aushandeln. Cochetel: „In diesem Stadium haben wir noch nicht die Gewissheit, dass es diese Sicherheitsklauseln und Prozeduren gibt. Wenn alle Migranten einfach so in die Türkei zurückgeschickt würden, dann wäre das aus unserer Sicht eine kollektive Abschiebung von Ausländern, und das widerspräche dem derzeit geltenden europäischen Recht sowie einer Reihe weiterer Normen im Bereich des Menschenrechtsschutzes.“ Das zielt vor allem auf die Genfer Flüchtlingskonvention.

Der UNHCR-Verantwortliche wundert sich nicht darüber, dass die Türkei auf dem Gipfel ein so detailliertes Angebot auf den Tisch gelegt hat. „Viele europäische Länder waren spürbar überrascht angesichts der türkischen Vorschläge, doch da muss man sich vor Augen halten, dass die Türkei das größte Asylland der Welt ist. Sie hat mehr als zwei Millionen und siebenhunderttausend Flüchtlinge auf ihrem Territorium!“

Vatikanzeitung: „EU delegiert das Problem“

Dass Ankara für sein Entgegenkommen handfeste Gegenleistungen von der EU erwartet, kommentiert Cochetel in unserem Interview nicht. „Ankara treibt den Preis nach oben“: So titelt die Vatikanzeitung „L’Osservatore Romano“ in ihrer Mittwochsausgabe. Vom Brüsseler Gipfel bleibe „der starke Eindruck von der Schwäche der EU“ zurück, heißt es in einer Analyse des Blattes. Europa sei aufgrund der divergierenden Interessen der EU-Staaten „unfähig, eine nachhaltige interne Lösung für die (Flüchtlings-)Krise zu finden“, und müsse sich deswegen an die Türkei binden. Selbst Angela Merkel handle derzeit offenbar mit Blick auf die Landtagswahlen vom nächsten Sonntag.

„Der Eindruck ist, dass es die EU als Ganzes einfach vorgezogen hat, das Problem nicht anzugehen, sondern zu delegieren.“ Der Preis dafür sei hoch, so Cochetel. „Ein weiteres Mal hat die EU darauf verzichtet, eine Protagonistenrolle einzunehmen.“ (rv)

Nach „Spotlight“ und der Anhörung von Kardinal Pell: Der Umgang der Kirche mit Missbrauch

Kardinal PellROM – Weltweite Aufmerksamkeit hat die Anhörung von Kardinal George Pell vor der australischen Missbrauchskommission erregt. Professor Hans Zollner hat sich mit den dazu angereisten Opfern und Angehörigen getroffen. Der Leiter des Kinderschutzzentrums der Päpstlichen Universität Gregoriana sprach mit CNA über den Auftritt von Kardinal Pell und den weiteren Weg der Kirche im Umgang mit Missbrauch und Prävention.

CNA: Pater Zollner, wie bewerten Sie den Ausgang des Gesprächs von Kardinal Pell mit den Opfern und Angehörigen von Opfern sexuellen Missbrauchs?

ZOLLNER: Nach all dem, was ich gehört habe ist der Kontakt mit den Betroffenen aus seiner Heimatdiözese — aus dem Ort, aus dem er selber ja auch stammt — deutlich besser verlaufen, als zu erwarten gewesen war. Es war offensichtlich für beide Seiten ein sehr ehrliches, aber auch ein sehr schmerzliches Gespräch, wie es der Kardinal beschrieben hat. Aber es war auch ein sehr konstruktiver Moment, im Sinn einer Begegnung, welche die Würde, die Fragen, die Nöte und das Leid der Betroffenen präsent machen konnten — und gleichzeitig auch die Bereitschaft dieses Kardinals, eines der höchsten Repräsentanten der Kirche, zuzuhören und angemessen zu reagieren. Kardinal Pell hat anschließend eine Erklärung vorgetragen, dass er an einem Forschungs- oder Schulungszentrum in Ballarat beteiligt sein werde: Damit diese Stadt, wo so viel Leid und Unmenschliches geschehen ist, wieder ein Ort der Hoffnung werden kann.

CNA: Kann ein solches Programm funktionieren?

ZOLLNER: Das kann sicherlich funktionieren. Ich bin sehr interessiert daran, dass unser Kontakt mit den Betroffenen weitergeht, weil sie als Betroffene ein andere Dringlichkeit im Vorgehen und eine andere Perspektive einbringen. Sie können uns sagen, worauf man besonders achten muss, etwa bei den „dunklen Stellen“: d.h. den Abwehrmechanismen der kirchlichen Verwaltung etwa. So können sie uns helfen, das Augenmerk darauf zu legen, was wir tun müssen, damit Institutionen wie Schulen, Pfarreien oder Jugendgruppen wirklich sichere Orte für Kinder und Jugendliche sind.

CNA: Sie haben das Modell gesehen?

ZOLLNER: Ja, und ich bin sehr beeindruckt davon, was sie mir vorstellten und an zwei Schulen auch schon eingeführt haben. Das sind genaue jene beiden Schulen, an denen sie selbst missbraucht wurden. Ich finde, das ist eine unglaubliche Geste. Wie sie mir mehrfach gesagt haben, geht es ihnen darum, sicherzustellen, dass sie die Letzten sind, die missbraucht wurden.

CNA: Die australische „Royal Commission“ untersucht, wie kirchliche, aber auch weltliche Einrichtungen auf Missbrauch reagiert haben. Wäre so etwas für europäische Verhältnisse auch sinnvoll?

ZOLLNER: Diese Art von Kommission ist eine seit etwa 100 Jahren oft geübte Praxis in angelsächsischen Ländern. Auch und gerade für den Bereich des Missbrauchs wurde gerade eine Kommission in Großbritannien auf den Weg gebracht; in Irland gab es mehrere solcher Kommissionen. Das sind Länder des „Common Law“, eines Rechtssystems, das anders ist als das unsere. Diese Art von Kommission gibt es bei uns kaum – das vergleichbarste wären die Enquete-Kommissionen, aber die haben meist weniger Vollmachten. So eine Royal Commission ist eine sehr gut ausgestattete Einrichtung mit weitreichenden Mitteln, mit viel Geld und Personal – auch wenn sie keine echte juristische Vollmacht hat. Die australische Kommission hat eine Reihe von sehr interessanten Forschungs-Aufträgen vergeben, unter anderem an die Australian Catholic University. Eine andere Frage ist allerdings, ob so etwas im eigenen Land so bekannt ist.

CNA: Auch hier gibt es Kommunikationslücken?

ZOLLNER: Also was ich sehr interessant fand im Gespräch mit den Opfern und Angehörigen war, dass die – wie sie selber sagten – „keine Ahnung“ hatten, was die Kirche schon alles tut, und sogar davon, was in ihrem eigenen Land geleistet an „Aufarbeitung“ und an Präventionsarbeit wird. Das ist enorm viel. Auch was die Kirche in Deutschland und Österreich tut. Da ist tatsächlich eine große Kommunikationslücke: Es geht nicht nur darum, dass die Leute das nicht wahrnehmen wollen. Wir als Kirche schaffen es offenbar nicht, die Öffentlichkeit darüber zu informieren, was alles Positives geschieht alleine im Bereich Präventionsschulungen, die in Deutschland für die Diözesen flächendeckend stattfinden.

CNA: Was muss aus Ihrer Sicht also noch geschehen?

ZOLLNER: Das ist ein sehr weites Feld. Ich war Anfang der Woche bei der österreichischen Bischofskonferenz eingeladen und habe dazu Kontakt auch mit der DBK und mit Präventionsbeauftragten aus Deutschland. Die größte Herausforderung für uns ist, dass wir an diesem Thema dran bleiben, und zwar in allen Präventionsbereichen, in den Schulen, der Jugendarbeit, den karitativen Berufen, bei den pastoralen Mitarbeitern. Dass wir darauf schauen, dass wir nicht locker lassen; dass wir alles tun, damit Aufmerksamkeit geweckt wird und keine Kinder und Jugendlichen in Gefahr geraten.

Ich bin überzeugt, dass wir uns auch durch diese tragischen und schrecklichen Dinge wieder neu besinnen müssen auf den Kern des Evangeliums, darauf dass, wie Jesus sagt, den Kindern das Reich Gottes gehört. Und dass dies uns als Kirche eine Chance bietet, uns so ehrlich und frei zu machen, wie Kinder es vor Gott sind.

CNA: Die Kirche hat hier also eine grundlegende Rolle zu spielen?

ZOLLNER: Ja. Ich glaube nicht, dass es bloßer Zufall ist, dass am gleichen Tag, an dem die Anhörung von Kardinal Pell stattfand ein Film einen Oscar gewonnen hat, der die Skandale von Boston von 2002 behandelt. Ein gut gemachter Film. Da ist offensichtlich ein Anruf, den Gott an uns gibt, und wo wir uns erstmal Rechenschaft geben müssen, dass Er uns zur Umkehr ruft und zu einem kohärenten Engagement. Es gibt viele zu lernen und zu tun im Umgang mit den Betroffenen. Oder auch im Blick auf eine Begleitung, die sicher stellt, dass Täter nicht wieder zu Tätern werden. Oder denken Sie an die Migrantenkinder, die ja höchst gefährdet sind… bei all diesen Fragen geht es darum: Wie kann die Kirche ihre Verantwortung wahrnehmen, eine prophetische Stimme haben und dabei mitarbeiten, dass Leid verhindert wird, und dass die verwundbarsten Menschen geschützt werden.

Hans Zollner SJ, geboren 1966 in Regensburg, ist Professor am Institut für Psychologie der Päpstlichen Universität Gregoriana, seit 2010 akademischer Vizerektor der Gregoriana und Vorstand des Instituts für Psychologie. Im Jahr 2011/2012 war er Vorsitzender des Organisationskommittees des Symposiums „Auf dem Weg zu Erneuerung und Heilung”. Der Jesuit ist Präsident des „Centre for Child Protection” der Gregoriana und Mitglied der Päpstlichen Kinderschutzkommission. (CNA Deutsch)