Die Wahrheit suchen und für sie kämpfen: Erzbischof Gänswein über das neue Benedikt-Buch

Vortrag von Erzbischof Georg Gänswein anlässlich der Buchvorstellung von Benedikt XVI./Joseph Ratzinger „Die Freiheit befreien. Glaube und Politik im dritten Jahrtausend.“

Eine Sensation an sich: Ein bislang unveröffentlichter Text von Papst emeritus Benedikt XVI. ist in Rom vorgestellt worden, der im Buch „Die Freiheit befreien. Glaube und Politik im dritten Jahrtausend“ erscheint. Der Präfekt des Päpstlichen Hauses und Privatsekretär Benedikts, Erzbischof Georg Gänswein, stellte das mit einem Vorwort von Papst Franziskus verlegte Werk vor – zu großem Applaus – im Rahmen einer Buchvorstellung im ehrwürdigen Sala Zuccari im Senat der italienischen Republik mit Antonio Tajani, dem Präsidenten der Europäischen Parlaments und Giampaolo Crepaldi, dem Erzbischof von Triest.

CNA Deutsch dokumentiert den Vortrag von Erzbischof Gänswein mit freundlicher Genehmigung.

Bevor Joseph Ratzinger zu Papst Benedikt XVI wurde, ist er als Deutscher groß geworden, vielleicht mehr noch als Bayer. Doch von seinem Elternhaus hatte er als Kind auch immer ins Salzburger Land hinübergeschaut, nach Österreich, und die Kultur des alten Habsburg vor Augen, vielleicht dachte er auch an seine Großmutter aus Südtirol, dem heutigen Italien. Grenzüberschreitungen kennzeichnen sein Leben, immer vor dem unendlichen Horizont des Katholischen. Nicht Grenzen, sondern das Ganze des Abendlands wurde deshalb von Kindesbeinen an sein politisches Zuhause, sogar in den Tagen, als die entfesselte Furie der Totalitarismus unseren Kontinent in den Abgrund zu stürzen versuchte.

So war es kein Wunder, dass Europa schon früh die politische Passion des jungen Gelehrten wurde. Kein Wunder ist es deshalb auch, dass Konrad Adenauer den jungen Joseph Ratzinger faszinierte und dessen zielstrebige Politik, mit der es der erste Bundeskanzler Nachkriegsdeutschlands gegen alle Verlockungen und Versprechen der Sowjet-Union durchgesetzt hat, die neue Bundesrepublik nach dem „Zivilisationsbruch“ Deutschlands unter den Nazis wieder ganz neu im freiheitlichen Wertesystem der jüdisch-christlichen Geschichte des lateinisch-westlichen Abendlandes zu verankern.

Nur hier, in dieser Geschichte, hatte Joseph Ratzinger früh erkannt, war der Gott Jakobs nicht als der Zürnende, sondern als der Liebende zuerst erkannt worden, der die Menschen nicht zwingt, sondern der um sie wirbt. Nur hier, in diesem Kulturraum, war deshalb auch die unvergleichliche „Freiheit des Christenmenschen“ entdeckt und entwickelt und verteidigt worden, von der vor 500 Jahren Martin Luther sprach, und die schon 1000 Jahre zuvor den heiligen Columban beseelt hat, dessen Erkenntnis: „Si tollis libertatem, tollis dignitatem“ noch heute die Columban-Kapelle im Fundament des Petersdoms schmückt. „Wenn du die Freiheit nimmst, nimmst du die Würde“, heißt diese Richtlinie des großen irischen Missionars aus dem 6. Jahrhundert auf Deutsch. Hier, in den „Cavi“ unterhalb des Papstaltars in der Confessio, die Bernini über dem Grab des Apostelfürsten Petrus errichtete, gehört dieser Satz Columbans deshalb gewissermaßen auch mit zu den Grundlagen des Papsttums. Es war dieser Geist, davon war Joseph Ratzinger schon früh überzeugt, mit dem irische Wandermönche im 6. Jahrhundert nach Christus Westeuropa christianisierten und inmitten der Völkerwanderung quasi neu begründet hatten. Der schöne Titel des Buches „Die Freiheit befreien“ könnte deshalb fast als ein cantus firmus im Leben Joseph Ratzingers und Benedikts XVI. gelten.

Denn der Papst aus Deutschland reifte ja gewissermaßen in der „katholischen Epoche“ der Nachkriegsgeschichte zum Mann und Denker und Lehrer heran, als Erich Przywara, der Lehrer Josef Piepers, die „Idee Europa“ entwickelte, und als Konrad Adenauer, Robert Schuman und Alcide de Gaspari das Wagnis einer Neugründung Europas über Ruinen unternahmen, und zwar im alten karolingischen Erbteil des Abendlands.

Es war diese Zeit, die den jungen und früh schon hochgelehrten homo historicus wie von selbst auch zum homo politicus werden ließ.

Sein politischster Begriff fiel aber auch da schon in eins mit dem wichtigsten theologischen Begriff des jungen Priesters. Das war die „Wahrheit“, die er später zum Motto seines Bischofswappens erhob, wo er um Mitarbeiter an eben dieser Wahrheit warb. Denn „wenn wir von dem Begriff der Wahrheit abgehen, gehen wir von den Grundlagen ab,“ erklärte er im Februar 2000 seinem Biografen Peter Seewald einmal auf Europas Schicksalsberg, im Mutterkloster des heiligen Benedikt auf dem Monte Cassino, und sagte weiter: „Der wirkliche Friede ist deshalb streitbar. Die Wahrheit ist das Leiden und auch den Streit wert. Ich darf die Lüge nicht hinnehmen, damit Ruhe ist. Niemand traut sich mehr zu sagen, dass das, was der Glaube sagt, wahr sei.“

Die Wahrheit zu suchen und für sie zu kämpfen, wurde deshalb zum roten Faden im Leben Josef Ratzingers und Benedikts XVI., weil sie, so war es seine Überzeugung, keine Wahrheit ist, die man „haben oder besitzen“, sondern der man sich nur annähern kann, weil die Wahrheit im Glauben und im Verständnis der Christen Person geworden ist: in Jesus Christus, in dem Gott sein Gesicht gezeigt hat. Diese Überzeugung machte den katholischen Theologen deshalb auch zu einem besonders respektierten Gesprächspartner von Jürgen Habermas, dem erklärtermaßen „religiös unmusikalischen“ großen Philosophen Deutschlands, mit dem er sich gleichwohl darin einig war, dass das jüdisch-christliche Leitbild der menschlichen Ebenbildlichkeit Gottes den Wesenskern Europas ausmacht. Es ist diese – nach Josef Pieper – „theologisch gegründete Weltlichkeit“ unserer westlichen Welt, von der der Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde später den in Deutschland berühmt gewordenen Schluss ableitete: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“

Der Gläubige und der Ungläubige würden und könnten sich hier „im Zweifel“ begegnen, hat Joseph Ratzinger Jahrzehnte davor und nunmehr auch schon wieder vor 50 Jahren in seiner „Einführung in das Christentum“ einmal formuliert. Im Kulturraum Europas aber ist die Begegnung der Gläubigen und Ungläubigen nicht nur im Zweifel, sondern auch in der Wahrheit möglich, wie der Dialog zwischen Ratzinger und Habermas in diesem Buch wieder darlegt.

Deshalb nahm Papst Benedikt XVI. aber auch umso schärfer die Grenzen dieses einzigartigen Kulturraums gegenüber allen anderen Kulturen wahr, wie er es am 12. September 2006 so unerschrocken in seiner berühmten „Regensburger Rede“ zum Ausdruck brachte: „Nicht vernunftgemäß, nicht mit dem Logos handeln ist dem Wesen Gottes zuwider hat Kaiser Manuel II. von seinem christlichen Gottesbild her seinem persischen Gesprächspartner gesagt. In diesen großen Logos, in diese Weite der Vernunft laden wir beim Dialog der Kulturen unsere Gesprächspartner ein.“

Wenn Papst Franziskus im Vorwort dieses Bandes sagt, dass diese Texte uns zusammen mit dem kraftvollen Gesamtwerk seines Vorgängers helfen könnten, „unsere Gegenwart zu verstehen und eine sichere Orientierung für die Zukunft zu suchen“, dann kommen mir dabei fast von selbst jene Worte zur Verteidigung des Naturrechts in den Sinn, die Papst Benedikt am 22. September 2011 den Abgeordneten der deutschen Bundesrepublik im Reichstag in Berlin eingeschärft hat, mit denen ich meinen kleinen Beitrag beschließen will: „Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande“, hat der heilige Augustinus einmal gesagt,“ erklärte er damals den Parlamentariern als der Lehrer, der er immer war, und fuhr fort: „Wir Deutsche wissen es aus eigener Erfahrung, dass diese Worte nicht ein leeres Schreckgespenst sind. Wir haben erlebt, dass Macht von Recht getrennt wurde, dass Macht gegen Recht stand, das Recht zertreten hat und dass der Staat zum Instrument der Rechtszerstörung wurde – zu einer sehr gut organisierten Räuberbande, die die ganze Welt bedrohen und an den Rand des Abgrunds treiben konnte. Dem Recht zu dienen und der Herrschaft des Unrechts zu wehren ist und bleibt die grundlegende Aufgabe des Politikers. In einer historischen Stunde, in der dem Menschen Macht zugefallen ist, die bisher nicht vorstellbar war, wird diese Aufgabe besonders dringlich. Der Mensch kann die Welt zerstören. Er kann sich selbst manipulieren. Er kann sozusagen Menschen machen und Menschen vom Menschsein ausschließen. Wie erkennen wir, was recht ist? Wie können wir zwischen Gut und Böse, zwischen wahrem Recht und Scheinrecht unterscheiden?“

Die Bitte des weisen König Salomon an den Gott Jakobs: „Verleih deinem Knecht ein hörendes Herz, damit er dein Volk zu regieren und das Gute vom Bösen zu unterscheiden versteht“ bleibe deshalb entscheidend vor allen Aufgaben, vor der der Politiker und die Politik auch heute stehen. Denn jene „historische Stunde“, von der der emeritierte Papst vor sechs Jahren in Berlin sprach, ist noch lange nicht zu Ende.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

„Die Freiheit befreien. Glaube und Politik im dritten Jahrtausend.“, Mit einem Vorwort von Papst Franziskus und einem bisher unveröffentlichten Text von Benedikt XVI. Hsrg. von Pierluca Azzaro und Carlos Granada (Benedikt XVI./Joseph Ratzinger, Schriften aus meiner Feder, Band 2), Herder, Freiburg 2018. (CNA Deutsch)

Erzbischof Gänswein über „Benedikt XVI. – Seine Papstjahre aus nächster Nähe“

Aus nächster Nähe berichtet über die Päpste, Rom und die Weltkirche EWTN-Romkorrespondent Paul Badde. Nun legt der bekannte Autor und Historiker ein Buch über die Papstjahre 2005 – 2013 vor, in dem er, zum Teil sehr persönlich, das Pontifikat von Papst Benedikt XVI darstellt.

Vorstellen kann ein solches Werk wohl niemand besser als Benedikts treuer Privatsekretär und auch unter Franziskus weiter als Präfekt des Päpstlichen Hauses dienende Erzbischof Georg Gänswein. Auf Anfrage von CNA Deutsch hat sich Erzbischof Gänswein freundlicherweise bereit erklärt, das Buch vorzustellen.

Dieses Buch ist lebendige Erinnerung. Es sind über 60 ausgewählte Berichte aus jenen Tagen, als Joseph Ratzinger nach über 400 Jahren der erste Papst aus Deutschland war und Badde als Korrespondent der Tageszeitung „Die Welt“ ihn dabei aus großer Nähe begleitet hat. Es ist ein Werk aus fast acht Jahren und ich erinnere mich noch an viele dieser Stücke, als hätte ich sie gestern gelesen. Benedikt XVI. habe ich im Januar 1995 im Campo Santo Teutonico in Rom als Kardinal und Hüter des Glaubens der katholischen Kirche kennengelernt. Badde kenne ich seit dem Fest Peter und Paul 2003.

Ich kam gerade aus dem Petersdom und einem päpstlichen Hochamt mit dem heiligen Johannes Paul II., wohin ich Kardinal Ratzinger als dessen Sekretär begleitet hatte, noch im Talar und Rochett, als Badde mich in Begleitung seiner Frau auf der Piazza della Città Leonina ansprach. Es stellte sich als der neue Korrespondent der WELT vor, der von seiner Redaktion in Berlin von Jerusalem nach Rom entsandt worden war, und fragte, ob er mich einmal zu einem Gespräch einladen könne. Er wohnte in der Via delle Grazie nebenan; ich wohnte damals noch in der Domus Sanctae Marthae und der Kardinal an der Piazza Città Leonina vor dem Passetto, der alten Fluchtmauer aus dem päpstlichen Palast.

So trafen wir uns bald mehrmals, wobei es an brisanten Themen in Rom nie mangelte, über die es sich auszutauschen lohnte. Bald gingen danach auch verschiedene Anfragen Baddes an den Kardinal über meinen Schreibtisch, über die ich ihn näher kennenlernte – und Zeuge seiner hartnäckigen Recherchen wurde. Kurz danach hatte ich auf Empfehlung eines Freundes sein Buch über „Maria von Guadalupe“ gelesen, als eine große Reportage ganz eigenen Stils, an die sich das hier vorliegende Buch heute als letztes aus seiner Hand einreiht.

Auffällig war von Anfang an in seinen Arbeiten für mich, dass Badde in der säkularen Welt der Medien ein unverwechselbares katholisches Profil hatte, das er ohne Scheu und souverän zum Ausdruck brachte. Dass es dabei an Gegnern und Anfeindungen gegen ihn nicht mangelte, wird keinen wundern. Seinem Handwerk haben dieser Konflikt und seine klare Position nie geschadet – im Gegenteil. Ich habe in Rom kaum einen Journalisten kennengelernt, der sorgfältiger, mutiger, hartnäckiger und analytischer bei seiner Spurensuche war als er, und der danach das Ergebnis seiner Recherchen immer mit außerordentlichem Sprachwillen auszudrücken versuchte.

Nach der Wahl Joseph Ratzingers zum Papst am 19. April 2005 verfolgte ich Baddes Arbeit dann vor allem in seiner Berichterstattung über Benedikt XVI., in der er ebenfalls wieder eine Ausnahmestellung unter den Journalisten Roms innehatte, von dessen Arbeiten dieses Buch nun eine kleine Auswahl bereitstellt – und von denen nicht wenige Arbeiten in diesem Zeitraum auch Papst Benedikt XVI. selbst schon bei ihrem Erscheinen beeindruckt haben, wie ich weiß.

Es ist also kein Schnellschuss, sondern ein Buch, das in acht Jahren – von 2005 bis 2013 – mit vielen Mühen entstanden ist. Mehr Arbeit, mehr Sachverstand, mehr Recherchen und Reisen und mehr Nähe wird wohl in kaum einem zweiten Buch über „unseren Papst“ stecken. Dennoch ist es keine Heiligenbiografie, sondern die kritische, humorvolle und hier und da auch kämpferische Begleitung des Papstes durch acht Jahre aus dem Blickwinkel eines gestandenen Reporters, als Zeugenschaft eines zuverlässigen Chronisten.

Ich habe mich immer gewundert, wie nah Paul Badde Papst Benedikt XVI. in diesem Zeitraum von draußen erfasst hatte, über alle Mauern des Vatikans hinweg. Dass er dessen revolutionären Schritt seines Amtsverzichts nicht vorhergesehen hat, ändert daran nichts. Diesen Schritt hat keiner voraussehen können, mich aus der allernächsten Nähe des Papstes aus Bayern eingeschlossen. Badde hat allerdings so früh wie kaum ein anderer erkannt und oft beschrieben, dass Benedikt ein Radikaler im Wortsinn war, das heißt, dass er sein Leben daran setzte, die katholische Kirche immer neu an ihre Wurzel (lateinisch: Radix) in Jesus Christus aus Nazareth zu erinnern und anzubinden – und dass der große Konservative auch immer ein Revolutionär war, wenn es darum ging, die Glut des Glaubens unter der Asche vieler Ruinen zu schützen und neu anzufachen.

Darum freue ich mich jetzt auch besonders über dieses Denkmal, das Badde dem „Papa emeritus“ über die Jahre seiner Vollmacht auf dem Stuhl Petri hier weit über unsere Zeit hinaus errichtet hat. Dieses Zeugnis hat Bestand. Es wird unsere Zeit überdauern. Für dieses Buch können besonders auch die Deutschen deshalb nur dankbar sein und für immer stolz auf Benedikt XVI., diese einzigartige Figur in den Schuhen des Fischers Petrus – in einem einmaligen Zeitfenster der Geschichte, dessen Zeugen wir alle sein durften.

Rom, am 19. Dezember 2017

+ Georg Gänswein

Präfekt des Päpstlichen Hauses,

Privatsekretär von Papst em. Benedikt XVI.

(CNA Deutsch)

Unser Buchtipp: Joseph Ratzinger, Gesammelte Interviews

Joseph Ratzinger: Gesammelte Schriften 13/3 Im Gespräch mit der Zeit. Ein Buchtipp von Pater Bernd Hagenkord

Dass es ein Interview mit Radio Vatikan mal in die Gesammelten Werke eines Theologen schafft, freut uns ungemein. Und wenn dieser Theologe dann auch noch Joseph Ratzinger ist, dann macht uns das stolz. Und so findet sich das Interview von Aldo Parmeggiani zum 75. Geburtstag von Joseph Ratzinger auf den Seiten 1345 bis 1351 von Band 13/3 des soeben erschienenen Bandes.

Eine ganze Reihe von Interviews finden sich hier, Bayerischer Rundfunk und Kleine Zeitung, Herder Korrespondenz und Katholische Nachrichtenagentur, Rheinischer Merkur und Frankfurter Allgemeine Zeitung: wer auch immer Kardinal Ratzinger interviewt hat, der findet sich in diesem Sammelband wieder.

Den Hauptteil des Bandes allerdings machen die drei Interviewbücher mit Peter Sewald aus, Salz der Erde, Gott und die Welt, Licht der Welt. Das letzte der Interviewbücher, Letzte Gespräche, findet sich allerdings nicht in diesem Band.

Bei der Relecture besonders der kleinen Stücke, also der Interviews, nicht der Interviewbücher, fällt besonders auf, dass die Texte klar zeitgebunden sind, aber darüber hinaus auch heute noch relevant sind. Es sind natürlich Zeitdokumente, wie sollte das bei Interviews auch anders ein, aber Kardinal Ratzinger hatte wie später als Papst auch noch die Fähigkeit, sozusagen über den aktuellen Zeitrahmen hinaus zu sprechen. Das fängt mit dem allerersten abgedruckten Interview aus dem Jahr 1969 an, „es muss ganz sicher neu erfahren werden, was Gott eigentlich ist.“ Das ist nicht einfach nur ein Gemeinplatz, liest man sich durch das, was Professor, Kardinal und Papst alles sagen, dann ergibt sich ein Bild. Und schon deshalb lohnt es sich, diese vermeintlich „kleinen“ Stücke in die gesammelten Werke aufzunehmen und wieder einmal zu lesen. (rv)

D: Handliche Informationen zu Papst Benedikt XVI.

Handliche Informationen über Leben und Werk von Joseph Ratzinger / Papst Benedikt hat das katholische Hilfswerk Kirche in Not herausgebracht. Die Broschüre aus der Reihe „Glaubens-Kompass“ zum 90. Geburtstag des emeritierten Papstes fasst die Biografie, die Kernanliegen und die wichtigsten Entscheidungen und Ereignisse seines Pontifikates zusammen. Vom Habemus Papam bis zum Amtsverzicht sind eine Reihe von Themen kundig und übersichtlich präsentiert: die Wiederzulassung der alten Messe und das zunächst unglücklich verlaufende Versöhnungsangebot an die Piusbruderschaft, die Ökumene mit der Orthodoxie und den Anglikanern und die Enzykliken, die Jesusbücher und Auslandsreisen, die Regensburger Rede bis hin zu Benedikts Beschämung über sexuellen Missbrauch in der Kirche und seine Anstrengungen zur Aufarbeitung dieser Fälle. Der 20-seitige Glaubens-Kompass im DIN-A6-Format kostet 35 Cent und ist bei „Kirche in Not“ erhältlich. (rv)

19. April: Jahrestag der Wahl Benedikt XVI.

PP Benedikt XVIAcht Jahre ist es erst her, dass Benedikt XVI. zum Papst gewählt wurde: Am 19. April 2005 wurde er den Gläubigen auf dem Petersplatz mit dem „Habemus Papam" angekündigt. Seit der Wahl von Papst Franziskus ist dieses Pontifikat Vergangenheit, aber der Jahrestag der Wahl Joseph Ratzingers ist auch Gelegenheit, daran zurück zu denken, wie Benedikt XVI. seiner Kirche dienen wollte und wie er sich das damals vorstellte als „einfacher Arbeiter im Weinberg des Herrn". (rv)

Hintergrund: Benedikts Jesus-Bücher

Das erste Mal spricht Joseph Ratzinger 2002 in einem Interview mit Radio Vatikan von seinem Projekt, ein Buch über Jesus zu schreiben. Er ist damals 75 Jahre alt, Kardinal, Chef der römischen Glaubenskongregation. Und rechnet damit, in fünf Jahren in Ruhestand zu gehen. Dafür will er sich nicht zuviel vornehmen:

„Was mir aber besonders am Herzen läge, wäre, noch ein Buch über Jesus Christus zu schreiben. Wenn mir das geschenkt würde, wäre das sozusagen der Wunsch, den ich vor allem trage. Und damit verbindet sich auch der Wunsch, dass ich genügend Zeit und Freiheit finde, um das zustande zu bringen."

Joseph Ratzinger ist – so wird er es selbst später einmal formulieren – zu seinem Jesusbuch „lange innerlich unterwegs gewesen". Ihm steht ein „Bild Jesu Christi" vor Augen, „wie er als Mensch auf Erden lebte, aber – ganz Mensch – doch zugleich Gott zu den Menschen trug, mit dem er als Sohn eins war. So wurde durch den Menschen Jesus Gott und von Gott her das Bild des rechten Menschen sichtbar." Seit den fünfziger Jahren allerdings habe es eine Reihe von Jesus-„Rekonstruktionen" gegeben, durch die der „Riss zwischen dem historischen Jesus und dem Christus des Glaubens" immer tiefer wurde: „Beides brach zusehends auseinander."

„Christus wird auf Jesus reduziert, auf einen beispielhaften Menschen, über den dann wieder die Ideen sehr unterschiedlich sind, und die Gottesfrage weitgehend beiseite geschoben. Es bleiben menschliche Vorbilder; bis zu Gott reicht es sozusagen gar nicht hin. So dass heute die Frage geworden ist: Gibt es doch mehr? Ist dieser Jesus mehr als irgendeines der Vorbilder, die es irgendwann mal gegeben hat? Und erreichen wir in ihm sozusagen wirklich Gott? Nur, wenn wir auf diese Fragen antworten, können wir die Herausforderung bestehen, die in der Gegenwart liegt."

Im April 2005 wird Ratzinger zum Papst gewählt: Benedikt XVI. Sein Jesusbuch ist da schon weitgehend fertig geschrieben – das erste zumindest. Denn das Projekt wächst an, mindestens drei Bände wird er brauchen. Im März 2007 veröffentlicht der Papst seinen ersten Band: Jesus von Nazareth – von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung. Er wartet nicht, bis er alles fertig geschrieben hat: „Da ich nicht weiß, wie lange mir noch Zeit und Kraft geschenkt sein werden", wie er formuliert. Der Autorenname ist ein doppelter: Joseph Ratzinger – Benedikt XVI.

„Das gab es noch nie in der Geschichte, dass ein Papst ein wissenschaftliches Jesusbuch schreibt." So reagiert damals, zusammen mit vielen anderen, der Bochumer Neutestamentler Thomas Söding. „Hier zeigt sich ein ganz neuer Stil des Papsttums: Der Stellvertreter Christi auf Erden formuliert kein Dogma, sondern sagt „Das ist meine Beobachtung als Theologe, lest das kritisch und diskutiert darüber!" Das halte ich für revolutionär."

„Gewiss brauche ich nicht eigens zu sagen, dass dieses Buch in keiner Weise ein lehramtlicher Akt ist, sondern einzig Ausdruck meines persönlichen Suchens nach dem Angesicht des Herrn", so Ratzinger-Benedikt im Vorwort des ersten Bandes. „Es steht daher jedem frei, mir zu widersprechen. Ich bitte die Leserinnen und Leser nur um jenen Vorschuss an Sympathie, ohne den es kein Verstehen gibt."

„Das Buch ist für alle interessant. Und mit seiner klaren und sehr gut verständlichen Sprache kann man es auch ohne Vorkenntnisse lesen… Was er jetzt braucht, sind viele intelligente und kritische Leser, die nicht vor Ehrfurcht in die Knie gehen, sondern das offene Gesprächsangebot ernst nehmen… Der Papst will ja auch gerade nicht sagen "Hier ist der Weisheit letzter Schluss und ab jetzt wird keine Jesusforschung mehr getrieben." Im Gegenteil! Die Leser sollen ja diskutieren, wieso dieser Jesus einerseits so fasziniert und andererseits so irritiert."

Das erste Jesusbuch wird ein Bestseller. „Faszinierend", urteilt der Jesuitenkardinal Martini, „bewunderswert, dass der Papst sich das als Nicht-Exeget zutraut." Der Theologe auf dem Stuhl des Petrus versucht, die historisch-kritische Bibelauslegung ernstzunehmen, aber auch die sogenannte „Kanonische Exegese" zu ihrem Recht kommen zu lassen. Sein Argument: Der Jesus, von dem die Evangelien erzählen, ist der Jesus des Glaubens. Man kann also, wenn man nach diesem Jesus fragt, den Glauben nicht einfach außer acht lassen. Auch der Wiener Kardinal Christoph Schönborn, der den Band der internationalen Presse vorstellt, sagt das so: „Jesus von Nazareth ist zuallererst das Werk eines Glaubenden."

„Und das ist das Wichtigste an diesem Buch. Es ist das Zeugnis eines Glaubenden an Jesus. Dass dieser Glaubende auch ein großer Theologe ist,…. das spielt natürlich alles mit hinein in dieses Buch, aber es ist zuerst das ganz persönliche Hinschauen des Christen Ratzinger auf seinen Herrn, auf Jesus."

Es ist vor allem ein jüdischer Rabbiner, mit dem der Papst – überraschend genug – in einen inneren Dialog über Gott tritt und darüber, wer Jesus war. Jesus war selbst die Thora, so entwickelt es Benedikt XVI.; und wenn man fragt, was Jesus eigentlich gebracht habe, dann sei die Antwort „ganz einfach: Gott. Er hat Gott gebracht… Nun kennen wir sein Antlitz, nun können wir ihn anrufen." Heimliche Achse des ersten Jesusbuches: die Bergpredigt. In den Seligpreisungen der Armen, der Sanftmütigen usw. erkennt Ratzinger-Benedikt ein verhülltes Selbstporträt Jesu.

„Er ist der Gewaltlose, der Friedensstifter, der Arme usw.! Wenn man also von der Biografie Christi her sozusagen die Bergpredigt liest, dann sieht man, dass es gar nicht so sehr auf die Einzelheiten ankommt (jeder kann nur einen Teil verwirklichen) – das Prinzip darin ist eben dieses: Christus nahezukommen und in seinem Leben die Gemeinschaft mit Christus neu auszudrücken und sich davon in seinem Leben führen und bestimmen zu lassen."

Vier Jahre später veröffentlicht Papst Benedikt den zweiten Teil der Jesus-Trilogie: „Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung". Darin kann er schon auf eine lebhafte Debatte zu seinem ersten Band zurückblicken: „Dankbar nehme ich auch zur Kenntnis, dass die Diskussion über Methode und Hermeneutik der Exegese, über Exegese als historische und zugleich als auch theologische Disziplin trotz mancher Sperren neuen Schritten gegenüber an Lebhaftigkeit zunimmt." Der Papst präzisiert noch mal, „dass ich kein „Leben Jesu" schreiben wollte" und auch keine „Christologie von oben". „Gestalt und Botschaft Jesu" wolle er zeichnen: „Ein wenig übertreibend könnte man sagen, ich wollte den realen Jesus finden, von dem aus so etwas wie eine „Christologie von unten" überhaupt möglich wird."

„Der Papst geht nun der Frage nach, was Jesus Christus für uns bedeutet – was sein Tod und seine Auferstehung bedeuten und welches nun die große Verheißung für uns ist: dass Jesus Christus der Erlöser, der Retter ist." Das sagt der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch. „Das Buch hat den großen Vorteil, dass es in deutscher Sprache konzipiert ist und wir damit die Originalsprache des Heiligen Vaters selber haben. Und er ist der, der den Leser einlädt, mitzugehen, durch die Art und Weise, wie er Fragen stellt und sie beantwortet und wie er den Leser mit einbezieht in seine ganzen Überlegungen, die ihm auf diese Weise folgen können. Man spürt, woraus Papst Benedikt lebt, was Jesu für ihn bedeutet, und dieses Feuer wird weitergegeben."

Auch das zweite Jesusbuch: ein Bestseller. Auch wenn man sich an den bücherschreibenden Papst mittlerweile etwas mehr gewöhnt hat. Besonders aufmerksam wird zur Kenntnis genommen, dass Ratzinger-Benedikt deutlich die These zurückweist, die Juden seien schuld am Tode Jesu. Thomas Söding:

„Der Papst lässt sich hier erfreulich intensiv auf die Debatten der historisch-kritischen Exegese ein und arbeitet heraus, dass es zu einem guten Teil bibelwissenschaftliche Gründe sind, dass wir mittlerweile sagen: Es waren natürlich nicht die Juden – es waren die Hohenpriester, und es waren in gewisser Weise wir alle. Das wird beim Papst glasklar und ist natürlich sehr hilfreich für das christlich-jüdische Gespräch."

Über die Auferstehung Jesu schreibt der Papst: „Jesus ist nicht in ein normales Menschenleben dieser Welt zurückgekehrt wie Lazarus und die anderen von Jesus auferweckten Toten. Er ist in ein anderes, neues Leben hinausgetreten – in die Weite Gottes…" Der Autor betont in direktem Widerspruch etwa zum evangelischen Theologen Gerd Lüdemann, „dass die Auferstehung für die Jünger so real war wie das Kreuz". „Keine wiederbelebte Leiche, sondern ein von Gott her neu und für immer Lebender." Das Jesus-Projekt Benedikts ist alles auf einmal: Bekenntnis des Glaubens, theologische Detailarbeit, Einladung zum Gespräch. Noch einmal Kardinal Schönborn:

„Er hat sich auch als Professor, wo ich ihn erlebt habe, immer sehr debattenfreudig gezeigt, er hat ein ganz großes Vertrauen in die Kraft der Argumente. Darum lässt er sich auch gründlich ein auf die historische Kritik an Jesus, stimmt das überhaupt, was man in der Bibel über ihn erzählt, ist das nicht Pfaffenlug und Kirchenschwindel, muss man das nicht alles enthüllen, wie das gewisse Autoren mit großen finanziellen Erfolg machen – da stellt er sich ganz ungeniert der strengen strikten Argumentation. Und diese Argumentation ist für ihn auch möglich, und er vertraut darauf, dass die Argumente nachvollziehbar sind. Das ersetzt nicht den Glauben, aber es zeigt zumindest eines für ihn, so ganz nebulös ist das Bild dieser Jesus nicht, wie es in den Evangelien steht – das ist sehr glaubwürdig." (rv)

Vor 30 Jahren: Ratzinger kommt nach Rom

An diesem Freitag vor genau dreißig Jahren kam Joseph Ratzinger nach Rom: Der Münchener Kardinal wurde Präfekt der vatikanischen Glaubenskongregation. Ein entscheidender Wendepunkt in seinem Leben. Ratzinger war damals 54 Jahre alt und erst seit ein paar Jahren Erzbischof. Den neuen Papst Johannes Paul II. hatte er erst im Konklave 1978 richtig kennengelernt, wie er mal im Gespräch mit dem Journalisten Peter Seewald erzählte:

„Ich habe mich spontan mit ihm sehr gut verstehen können, aber dass er da an mich denken würde, das ist mir nicht durch den Sinn gegangen."

Wohl auch deshalb, weil die vatikanische Glaubenskongregation über Jahrhunderte hinweg eine Domäne der Italiener gewesen war. Erst Papst Paul VI. hatte damit angefangen, der Kurie ein internationaleres Gesicht zu geben. Deutsche verirrten sich allerdings so gut wie nie in ein kuriales Spitzenamt. Ratzinger vermutete denn auch, dass sein Ruf nach Rom ein einsamer Entschluss des polnischen Papstes war:

„Das nehme ich an. Ich habe ihn nie danach gefragt… aber ich nehme schon an, dass das seine sehr persönliche Entscheidung war."

Wie das genau ablief mit seinem Sprung von der Isar an den Tiber, das stellte Kardinal Ratzinger im Interview mit Seewald für das Gesprächsbuch „Salz der Erde" folgendermaßen dar:

„Der Papst hat mir dann einmal gesagt, dass er diese Absicht hat, mich nach Rom zu rufen. Ich hab` ihm die Gegengründe dargestellt, und er hat dann gesagt: Überlegen wir das alles noch einmal. Dann haben wir nach dem Attentat noch einmal gesprochen, und er hat gesagt: Ich möchte dabei bleiben. Ich habe gesagt: Ich fühle mich aber doch so sehr der Theologie verpflichtet, dass ich auch weiterhin das Recht haben möchte, auch eigene private Werke herauszubringen – und ich weiß nicht, ob das kompatibel ist mit dieser Aufgabe. Da hat er gesagt: Da will ich mich auch noch einmal beraten lassen… Dann ergab sich aber, dass auch andere vor mir das schon getan hatten, und er hat dann gesagt: Nein, das ist kein Hindernis, das können wir machen."

Am 25. November 1981 also wird Joseph Ratzinger zum neuen Präfekten der Glaubenskongregation ernannt. Bis er in Rom ankommt, ist es März 1982: Da liegt eine feierliche Verabschiedung auf dem Münchener Marienplatz hinter ihm. Der Abschied von Deutschland fällt ihm nicht leicht. Ratzinger lässt sich in die Pflicht nehmen, aber angesichts des Streits um den Theologen Hans Küng in den zurückliegenden Jahren und angesichts der sich abzeichnenden Auseinandersetzung mit Befreiungstheologen ist ihm klar, dass er im neuen Amt als Chef-Theologe so manche Pfeile auf sich ziehen wird.

„Es gibt eben die bekannten Vorstellungen davon, wie die Deutschen sind, und insofern liegt es nahe, dann Entscheidungen, die Missfallen erregen, dann auch der deutschen Sturheit zuzuschreiben und diesem Prinzipien-Fanatismus, dieser mangelnden Flexibilität – das alles doch auch als Ausdruck deutschen Wesens anzusehen. Als das Wort Panzerkardinal erfunden wurde, war da sicher eine solche Anspielung auf das Deutschtum mit verbunden…"

Hat sich Ratzinger, der einstmals fortschrittliche Theologe, im römischen Amt verhärtet, ist er dort konservativ geworden? Nein, das sah er selbst im Gespräch mit Seewald nicht so. Nicht er habe sich geändert, sondern nur sein Amt.

„Insofern geben die Umstände dem, was einer tut und sagt, wirklich einen anderen Stellenwert. Ich bestreite also nicht, dass es in meinem Leben Entwicklung und Wandel gibt; was ich aber festhalte ist, dass es Entwicklung und Wandel in einer grundlegenden Identität ist und dass ich gerade mich wandelnd versucht habe, dem treu zu bleiben, worum es mir immer gegangen ist."

Obwohl er viele kontroverse Entscheidungen getroffen hat, bemühte sich Joseph Ratzinger an der Spitze der Glaubenskongregation immer um Kollegialität. In kuriale Seilschaften ließ er sich nicht hineinziehen, stattdessen machte er mit seinen klaren Analysen von sich reden. Was er denn gelernt habe in seiner Zeit in Rom, fragte ihn Radio Vatikan vor ein paar Jahren, als er noch Kardinal war. Ratzingers Antwort:

„Ja, ich habe in diesen 25 Jahren vor allem gelernt, mir nichts zu fest vorzunehmen. Was mir aber besonders am Herzen läge, wäre, noch ein Buch über Jesus Christus zu schreiben."

Das hat er dann auch geschafft – aber da war aus dem Kurienkardinal längst Papst Benedikt geworden. Seit 30 Jahren ist er in Rom, seit sechs Jahren Papst. Die Geschichte geht weiter. (rv)

USA: „Wikileaks“ betrifft auch Vatikan

Die Veröffentlichung von US-Geheimdokumenten auf der Webseite „Wikileaks" betrifft auch den Vatikan. Aus den Geheimpapieren des US-Außenministeriums, die an diesem Montag bekannt wurden, geht u.a. hervor, dass US-Diplomaten beim letzten Konklave 2005 am ehesten mit der Wahl eines lateinamerikanischen Papstes rechneten – „angesichts der hohen Zahl der Katholiken dort". Dass sich die Kardinäle für Joseph Ratzinger entschieden, werten die Papiere als „Überraschung für viele" bzw. als „Schock". Doch obwohl der bislang „mächtige Kardinal" von den Medien „wie ein autokratischer Despot" beschrieben werde, sei er im direkten Gespräch „überraschend demütig, spirituell und angenehm". Das Pontifikat werde im Zeichen der Kontinuität stehen und europäisch geprägt sein, so die Geheimpapiere weiter.
 Ein vertraulicher Bericht der US-Botschaft in Berlin, den „Wikileaks" öffentlich macht, spricht von einer möglichen neuen „Achse Rom-Köln"; im deutschen Klerus herrsche „Skepsis, ob die Wahl Ratzingers der deutschen Kirche auf lange Sicht etwas bringt". Ein „einflußreicher Jesuit" habe den Diplomaten in einem Hintergrundgespräch gesagt, „Ratzingers konservative Züge müßten nicht unbedingt bestimmend für seine Amtsführung als Papst werden"; Benedikt XVI. könne durchaus „zu den reformerischen Positionen seiner Anfänge zurückkehren".
„Wikileaks" veröffentlicht außerdem eine siebenseitige Geheimanalyse der US-Regierung vom 12. Mai 2005. Darin heißt es: „In Zeiten der Krise flüchtet sich die Kirche in ihre europäische Identität". Der neue Papst kenne die Probleme der Weltkirche sehr gut; er sei ein Gegner eines türkischen Beitritts zur EU und werde sich „kämpferisch gegen den Säkularismus in den USA und anderen Nationen des Westens engagieren". (rv)

Vatikan: Stellungnahme zum Missbrauchsfall in München abgelehnt

Der Vatikan hat eine Stellungnahme zum jüngst bekanntgewordenen Missbrauchsfall im Erzbistum München-Freising abgelehnt. Der vatikanische Pressesaal verweist auf eine weitere Stellungnahme des Münchner Erzbistums zu dem Fall. Demnach habe der damalige Münchener Generalvikar Gerhard Gruber die „volle Verantwortung“ für den Einsatz eines pädophilen Priesters in der Seelsorge übernommen.
Das bayrische Erzbistum erklärte am Freitag, dass eine von Generalvikar Peter Beer eingesetzte Arbeitsgruppe auf „schwere Fehler“ im Umgang mit einem Priester gestoßen sei. Den Anstoß dazu hätten Hinweise der „Süddeutschen Zeitung“ gegeben. Die „Süddeutsche Zeitung“ hat in ihrer Samstagausgabe berichtet, dass das Erzbistum in den 1980er Jahren einen Priester trotz Missbrauchsvorwürfen und Verurteilung in der Seelsorge eingesetzt habe. Das ereignete sich somit während der Amtszeit von Joseph Ratzinger als Erzbischof von München und Freising. Generalvikar Beer bedauere zutiefst, dass es dadurch zu einem Vergehen mit Jugendlichen habe kommen können.
Recherchen der Arbeitsgruppe
Die Recherchen der Arbeitsgruppe ergaben, dass die Erzdiözese im Januar 1980 auf Bitten des Bistums Essen einen Kaplan aufgenommen hatte. Der Aktenlage nach scheint bekannt gewesen zu sein, dass der Priester in München eine Therapie vermutlich wegen sexueller Beziehungen zu Jungen machen sollte. Um dies dem Geistlichen zu ermöglichen, sei ihm eine Unterkunft in einem Pfarrhaus gewährt worden. Der Beschluss sei auch von Joseph Ratzinger mitgefasst worden, der von 1977 bis 1982 Münchner Erzbischof war, heißt es in der Mitteilung. Davon abweichend habe Generalvikar Gruber den Kaplan „uneingeschränkt zur Seelsorgemithilfe“ in einer Münchner Pfarrei angewiesen. Bis August 1982 lägen keine Beschwerden über den Mann vor. Danach habe er bis Anfang 1985 seelsorglich in Grafing gewirkt. Als dort die Polizei wegen des Vorwurfs sexuellen Missbrauchs zu ermitteln begann, sei der Priester am 29. Januar 1985 vom Dienst entpflichtet worden. Das Amtsgericht Ebersberg verurteilte den Kaplan im Juni 1986 wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger, wie das Erzbistum weiter bestätigte. Gegen ihn wurde eine 18-monatige Freiheitsstrafe auf Bewährung und eine Geldstrafe verhängt. Die Bewährungszeit sei auf fünf Jahre festgesetzt worden. Außerdem sei der Verurteilte angewiesen worden, sich in eine Psychotherapie zu begeben.
Von November 1986 bis Oktober 1987 sei der Geistliche als Kurat in einem Altenheim tätig gewesen, danach bis 2008 in einer Gemeinde in Garching/Alz. Für den erneuten Einsatz in der Pfarrseelsorge seien offenbar „die relativ milde Strafe“ des Amtsgerichts und die Ausführungen des behandelnden Psychologen ausschlaggebend gewesen, heißt es in der Mitteilung. Zudem wird betont, dass dem Ordinariat seit dem Gerichtsurteil keine weiteren Vorfälle mehr bekanntgeworden seien.
Ab Mai 2008 sei der Priester von seinen Aufgaben als Pfarradministrator entpflichtet und ab Oktober in der Kur- und Tourismusseelsorge eingesetzt worden. Ihm sei zur Auflage gemacht worden, keine Jugend- und Ministrantenarbeit mehr machen zu dürfen. Ein auf Wunsch des neuen Münchner Erzbischof Reinhard Marx erstelltes forensisches Gutachten habe aus Sicht des Ordinariats gegen den Verbleib des Mannes in der Pfarrseelsorge gesprochen.

Lesen Sie hier die Stellungnahme des Erzbistums München-Freising

Priester trotz Missbrauchsvorwürfen und Verurteilung in der Seelsorge eingesetzt
Erzdiözese räumt schwere Fehler im Umgang mit Personalie in den 80er Jahren ein
Früherer Generalvikar Gerhard Gruber übernimmt „volle Verantwortung“
München, 12. März 2010. Bei der Überprüfung möglicher Missbrauchsfälle früherer Jahrzehnte ist das Erzbischöfliche Ordinariat auf schwere Fehler im Umgang mit einer Priesterpersonalie in den 80er Jahren gestoßen. Auf Hinweise der „Süddeutschen Zeitung“ vom Donnerstag, 11. März, hat die von Generalvikar Prälat Peter Beer eingesetzte Arbeitsgruppe zur Überprüfung von Altfällen festgestellt, dass ein aus der Diözese Essen stammender Priester trotz Vorwürfen sexuellen Missbrauchs und trotz einer Verurteilung vom damaligen Generalvikar Gerhard Gruber wiederholt in der Pfarrseelsorge eingesetzt wurde. Gruber übernimmt für die falschen Entscheidungen die volle Verantwortung.
Nach den Recherchen der Arbeitsgruppe des Ordinariats stellt sich der Fall bislang wie folgt dar:
Als Kaplan wurde H. auf Bitten des Bistums Essen im Januar 1980 in der Erzdiözese München und Freising aufgenommen. Er sollte in München eine Therapie machen. Aufgrund der Aktenlage muss die Arbeitsgruppe des Ordinariates davon ausgehen, dass damals bekannt war, dass er diese Therapie vermutlich wegen sexueller Beziehungen zu Jungen machen sollte. 1980 wurde beschlossen, H. Unterkunft in einem Pfarrhaus zu gewähren, damit er die Therapie wahrnehmen könne. Diesen Beschluss hat der damalige Erzbischof mit gefasst. Abweichend von diesem Beschluss, wurde H. dann jedoch vom damaligen Generalvikar uneingeschränkt zur Seelsorgemithilfe in einer Münchner Pfarrei angewiesen.
Aus dieser Zeit (1. Februar 1980 bis 31. August 1982) liegen keine Beschwerden oder Vorwürfe über H. vor.
Von September 1982 bis Anfang 1985 war H. dann zur Seelsorgemithilfe in Grafing tätig. Nach Bekanntwerden von Vorwürfen sexuellen Missbrauchs und der Aufnahme polizeilicher Ermittlungen wurde er mit Schreiben vom 29. Januar 1985 vom Dienst entpflichtet. Im Juni 1986 wurde Kaplan H. vom Amtsgericht Ebersberg wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger zu 18 Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung und einer Geldstrafe in Höhe von 4000 Mark verurteilt. Die Bewährungszeit wurde auf fünf Jahre festgesetzt. Der Verurteilte wurde angewiesen, sich in eine Psychotherapie zu begeben.
Ab November 1986 bis Oktober 1987 wurde H. als Kurat in einem Altenheim eingesetzt. Abschließend war er bis September 2008 in Garching/Alz in einer Gemeinde tätig, zunächst als Kurat, später als Pfarradministrator. Für den erneuten Einsatz in der Pfarrseelsorge waren offenbar die relativ milde Strafe des Amtsgerichts Ebersberg und die Ausführungen des behandelnden Psychologen ausschlaggebend.
Seit dem Gerichtsurteil im Jahr 1986 wurden dem Ordinariat keine weiteren Vorfälle mehr bekannt.
Am 6. Mai 2008 wurde H. von seinen Aufgaben als Pfarradministrator in Garching entpflichtet und ab Oktober 2008 als Kur- und Tourismusseelsorger eingesetzt. Ihm wurde zur Auflage gemacht, dass er keine Kinder-, Jugend- und Ministrantenarbeit mehr machen dürfe. Ein auf Wunsch des neuen Erzbischofs Reinhard Marx erstelltes forensisches Gutachten rechtfertigte aus Sicht des Ordinariats nicht den Verbleib von H. in der Pfarrseelsorge.
Der frühere Generalvikar Gerhard Gruber erklärt dazu: „Der wiederholte Einsatz von H. in der Pfarrseelsorge war ein schwerer Fehler. Ich übernehme dafür die volle Verantwortung. Ich bedauere zutiefst, dass es durch diese Entscheidung zu dem Vergehen mit Jugendlichen kommen konnte und entschuldige mich bei allen, denen Schaden zugefügt wurde.“ (rv)