Wie funktioniert Dogmenentwicklung?

Eine Besprechung von Michael Seewalds „Dogma im Wandel. Wie Glaubenslehren sich entwickeln.“

Die katholische Glaubenslehre kann sich entwickeln. Das sollte allen Katholiken klar sein. So wurde etwa erst 1950 das Dogma von der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel feierlich von Papst Pius XII. am Allerheiligenfest verkündet.

Wie aber muss man sich die Entwicklung des Dogmas vorstellen? Bedeutet Entwicklung notwendigerweise auch, dass die offizielle Lehre von 2018 der kirchlichen Lehre des Mittelalters widersprechen kann?

Ein derartiger Gedanke sollte treuen Katholiken eher Unbehagen bereiten, und doch ist das Thema brandaktuell, denkt man beispielsweise an die Änderung des Katechismus bezüglich der Todesstrafe oder die Debatte rund um den Kommunionempfang von Personen, die aus verschiedenen Gründen unverheiratet zusammenleben.

Im vorliegenden Buch „Dogma im Wandel“ stellt Michael Seewald, der junge Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte, verschiedene Theorien und Positionen zur Dogmenentwicklung vor, die sich im Laufe der Kirchengeschichte herausgebildet haben.

Ehe es jedoch in die Geschichte geht, definiert Seewald zunächst die entscheidenden Begriffe Dogma und Entwicklung, bevor er die Heilige Schrift als solche anschaut. Kritik übt er dabei am Ansatz der vorkonziliaren Theologie, welcher die Bedeutung der Bibel nicht hoch genug gehalten habe.

„Franz Diekamp, der […] Neuthomist, bringt dies in geradezu entwaffnender Deutlichkeit zum Ausdruck. Weil das Lehramt ‚die nächste und unmittelbare Richtschnur des katholischen Glaubens‘ (regula proxima fidei) sei, die Bibel aber, da stets ‚der Gewährleistung und Auslegung durch das kirchliche Lehramt bedürftig‘, nur die regula remota fidei darstelle, habe der Schriftbezug der Theologie eine nachrangige Bedeutung und könne gegebenenfalls ganz entfallen.“

In der Väterzeit ist besonders Vinzenz von Lérins zu erwähnen, dessen Ansatz bis heute häufig und wohlwollend zitiert wird, wonach nämlich das katholisch sei, was „überall, immer und von allen“ geglaubt wurde und wird.

Allerdings sei diese Regel des Vinzenz von Lérins nicht unproblematisch, so Seewald:

„Sie kann nach dem Streit, wenn sich die Lage übersichtlicher gestaltet, begründen, warum der angesteuerte Hafen der richtige sein soll; kriteriologisch im Nebel des Streits den Hafen zu weisen, vermag sie nicht, weil die Kennzeichen, die Vinzenz für die Orthodoxie anführt, von der Heterodoxie in gleicher Weise in Anspruch genommen werden.“

Theologie der Neuzeit

Mit dem Mittelalter geht es weiter, wobei natürlich auch Thomas von Aquin erwähnt wird. Spannend wird es dann aber in den nächsten Kapiteln, die sich mit den Ansätzen des 19. und 20. Jahrhunderts befassen – einschließlich der Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, als dem Relativismus das Tor geöffnet worden zu sein schien.

John Henry Newman, einer der Großen der neuzeitlichen Theologie, wird ausführlich behandelt:

„Das eigentlich Problematische für Newman ist nicht der Umstand, dass es in manchen Dingen Fehlentwicklungen (corruptions) geben kann, die selbst wieder Raum für weitere Entwicklungen schaffen. Das für die Kirche im wörtlichen Sinne Tödliche sieht der englische Gelehrte darin, dass die Kirche den Versuch aufgibt, ihre Idee zeitgenössisch werden zu lassen und sie in eine Erstarrung verfällt, die sie als museales Relikt in die Gegenwart reichen, aber nicht mehr als bewegte und damit die Herzen der Menschen bewegende Größe erlebbar werden lässt. Denn in ‚einer höheren Welt mag es anders sein, aber hier unten heißt Leben sich wandeln, und vollkommen zu sein, sich oft gewandelt haben.'“

Die schwere Krise des Modernismus, besonders im Pontifikat von Papst Pius X., sieht Seewald eher unproblematisch. „Bei dem, was von Papst Pius X. 1907 im Dekret Lamentabili sane exitu und wenig später in der Enzyklika Pascendi dominici gregis beschrieben wurde, handelt es sich um eine solche ‚genuin römische Erfindung‘, weil ‚das, was an der Kurie als Modernismus herumgeisterte, niemand ernsthaft vertreten hat.'“

Nichtsdestotrotz handelte es sich beim Modernismus um schwerwiegende Fehler und Mängel, sogar Häresien, wie sich spätestens nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil herausstellte. Für Seewald ist das eher weniger relevant. Stattdessen verteidigt er den französischen Theologen Alfred Loisy, der eigentlich nur falsch verstanden worden sei.

Nachkonziliare Theologie

Was die nachkonziliare Zeit angeht, so präsentiert Seewald drei wichtige Gestalten der deutschen Theologie in größerer Ausführlichkeit. Zunächst handelt es sich um Karl Rahner, sodann Joseph Ratzinger, und schließlich Walter Kasper. Auffällig ist, wie die Präzision der althergebrachten Theologie, von den Kirchenvätern bis hin zur Neuscholastik, abgelöst wird durch einen schwammigen Wortschwall, bei dem man nach dem Lesen kaum weiß, worum es überhaupt geht. Walter Kasper jedenfalls meint, dass die Dogmen „pneumatische Ereignisse in der Kirche“ seien, die „aber später auch tötendes Gesetz werden“ können, „wenn sie als starre Grenze aufgefasst werden“. Wohin ein solches Verständnis führt, kann der Zeitgenosse an den Problemen sehen, die zu Beginn dieser Buchbesprechung kurz skizziert wurden. Andere Beispiele gibt es natürlich.

Michael Seewald ist einerseits zu danken für die wichtige Arbeit einer kurzen, aber umfassenden Zusammenstellung des komplexen Themas der Dogmenentwicklung. Die historische Perspektive allein ist sehr lesenswert. Leider wertet Seewald, häufig subtil, aber durchaus auch im Sinne der äußerst modernen Theologie eines Walter Kasper. Treue Katholiken sollten hier eher skeptisch bleiben und es mit Theologen und Heiligen halten, die sich bewährt haben, wenn auch der Ansatz dieser Personen, wie Seewald korrekt herausarbeitet, nicht absolut zufriedenstellend ist. (CNA Deutsch)

Die Wahrheit suchen und für sie kämpfen: Erzbischof Gänswein über das neue Benedikt-Buch

Vortrag von Erzbischof Georg Gänswein anlässlich der Buchvorstellung von Benedikt XVI./Joseph Ratzinger „Die Freiheit befreien. Glaube und Politik im dritten Jahrtausend.“

Eine Sensation an sich: Ein bislang unveröffentlichter Text von Papst emeritus Benedikt XVI. ist in Rom vorgestellt worden, der im Buch „Die Freiheit befreien. Glaube und Politik im dritten Jahrtausend“ erscheint. Der Präfekt des Päpstlichen Hauses und Privatsekretär Benedikts, Erzbischof Georg Gänswein, stellte das mit einem Vorwort von Papst Franziskus verlegte Werk vor – zu großem Applaus – im Rahmen einer Buchvorstellung im ehrwürdigen Sala Zuccari im Senat der italienischen Republik mit Antonio Tajani, dem Präsidenten der Europäischen Parlaments und Giampaolo Crepaldi, dem Erzbischof von Triest.

CNA Deutsch dokumentiert den Vortrag von Erzbischof Gänswein mit freundlicher Genehmigung.

Bevor Joseph Ratzinger zu Papst Benedikt XVI wurde, ist er als Deutscher groß geworden, vielleicht mehr noch als Bayer. Doch von seinem Elternhaus hatte er als Kind auch immer ins Salzburger Land hinübergeschaut, nach Österreich, und die Kultur des alten Habsburg vor Augen, vielleicht dachte er auch an seine Großmutter aus Südtirol, dem heutigen Italien. Grenzüberschreitungen kennzeichnen sein Leben, immer vor dem unendlichen Horizont des Katholischen. Nicht Grenzen, sondern das Ganze des Abendlands wurde deshalb von Kindesbeinen an sein politisches Zuhause, sogar in den Tagen, als die entfesselte Furie der Totalitarismus unseren Kontinent in den Abgrund zu stürzen versuchte.

So war es kein Wunder, dass Europa schon früh die politische Passion des jungen Gelehrten wurde. Kein Wunder ist es deshalb auch, dass Konrad Adenauer den jungen Joseph Ratzinger faszinierte und dessen zielstrebige Politik, mit der es der erste Bundeskanzler Nachkriegsdeutschlands gegen alle Verlockungen und Versprechen der Sowjet-Union durchgesetzt hat, die neue Bundesrepublik nach dem „Zivilisationsbruch“ Deutschlands unter den Nazis wieder ganz neu im freiheitlichen Wertesystem der jüdisch-christlichen Geschichte des lateinisch-westlichen Abendlandes zu verankern.

Nur hier, in dieser Geschichte, hatte Joseph Ratzinger früh erkannt, war der Gott Jakobs nicht als der Zürnende, sondern als der Liebende zuerst erkannt worden, der die Menschen nicht zwingt, sondern der um sie wirbt. Nur hier, in diesem Kulturraum, war deshalb auch die unvergleichliche „Freiheit des Christenmenschen“ entdeckt und entwickelt und verteidigt worden, von der vor 500 Jahren Martin Luther sprach, und die schon 1000 Jahre zuvor den heiligen Columban beseelt hat, dessen Erkenntnis: „Si tollis libertatem, tollis dignitatem“ noch heute die Columban-Kapelle im Fundament des Petersdoms schmückt. „Wenn du die Freiheit nimmst, nimmst du die Würde“, heißt diese Richtlinie des großen irischen Missionars aus dem 6. Jahrhundert auf Deutsch. Hier, in den „Cavi“ unterhalb des Papstaltars in der Confessio, die Bernini über dem Grab des Apostelfürsten Petrus errichtete, gehört dieser Satz Columbans deshalb gewissermaßen auch mit zu den Grundlagen des Papsttums. Es war dieser Geist, davon war Joseph Ratzinger schon früh überzeugt, mit dem irische Wandermönche im 6. Jahrhundert nach Christus Westeuropa christianisierten und inmitten der Völkerwanderung quasi neu begründet hatten. Der schöne Titel des Buches „Die Freiheit befreien“ könnte deshalb fast als ein cantus firmus im Leben Joseph Ratzingers und Benedikts XVI. gelten.

Denn der Papst aus Deutschland reifte ja gewissermaßen in der „katholischen Epoche“ der Nachkriegsgeschichte zum Mann und Denker und Lehrer heran, als Erich Przywara, der Lehrer Josef Piepers, die „Idee Europa“ entwickelte, und als Konrad Adenauer, Robert Schuman und Alcide de Gaspari das Wagnis einer Neugründung Europas über Ruinen unternahmen, und zwar im alten karolingischen Erbteil des Abendlands.

Es war diese Zeit, die den jungen und früh schon hochgelehrten homo historicus wie von selbst auch zum homo politicus werden ließ.

Sein politischster Begriff fiel aber auch da schon in eins mit dem wichtigsten theologischen Begriff des jungen Priesters. Das war die „Wahrheit“, die er später zum Motto seines Bischofswappens erhob, wo er um Mitarbeiter an eben dieser Wahrheit warb. Denn „wenn wir von dem Begriff der Wahrheit abgehen, gehen wir von den Grundlagen ab,“ erklärte er im Februar 2000 seinem Biografen Peter Seewald einmal auf Europas Schicksalsberg, im Mutterkloster des heiligen Benedikt auf dem Monte Cassino, und sagte weiter: „Der wirkliche Friede ist deshalb streitbar. Die Wahrheit ist das Leiden und auch den Streit wert. Ich darf die Lüge nicht hinnehmen, damit Ruhe ist. Niemand traut sich mehr zu sagen, dass das, was der Glaube sagt, wahr sei.“

Die Wahrheit zu suchen und für sie zu kämpfen, wurde deshalb zum roten Faden im Leben Josef Ratzingers und Benedikts XVI., weil sie, so war es seine Überzeugung, keine Wahrheit ist, die man „haben oder besitzen“, sondern der man sich nur annähern kann, weil die Wahrheit im Glauben und im Verständnis der Christen Person geworden ist: in Jesus Christus, in dem Gott sein Gesicht gezeigt hat. Diese Überzeugung machte den katholischen Theologen deshalb auch zu einem besonders respektierten Gesprächspartner von Jürgen Habermas, dem erklärtermaßen „religiös unmusikalischen“ großen Philosophen Deutschlands, mit dem er sich gleichwohl darin einig war, dass das jüdisch-christliche Leitbild der menschlichen Ebenbildlichkeit Gottes den Wesenskern Europas ausmacht. Es ist diese – nach Josef Pieper – „theologisch gegründete Weltlichkeit“ unserer westlichen Welt, von der der Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde später den in Deutschland berühmt gewordenen Schluss ableitete: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“

Der Gläubige und der Ungläubige würden und könnten sich hier „im Zweifel“ begegnen, hat Joseph Ratzinger Jahrzehnte davor und nunmehr auch schon wieder vor 50 Jahren in seiner „Einführung in das Christentum“ einmal formuliert. Im Kulturraum Europas aber ist die Begegnung der Gläubigen und Ungläubigen nicht nur im Zweifel, sondern auch in der Wahrheit möglich, wie der Dialog zwischen Ratzinger und Habermas in diesem Buch wieder darlegt.

Deshalb nahm Papst Benedikt XVI. aber auch umso schärfer die Grenzen dieses einzigartigen Kulturraums gegenüber allen anderen Kulturen wahr, wie er es am 12. September 2006 so unerschrocken in seiner berühmten „Regensburger Rede“ zum Ausdruck brachte: „Nicht vernunftgemäß, nicht mit dem Logos handeln ist dem Wesen Gottes zuwider hat Kaiser Manuel II. von seinem christlichen Gottesbild her seinem persischen Gesprächspartner gesagt. In diesen großen Logos, in diese Weite der Vernunft laden wir beim Dialog der Kulturen unsere Gesprächspartner ein.“

Wenn Papst Franziskus im Vorwort dieses Bandes sagt, dass diese Texte uns zusammen mit dem kraftvollen Gesamtwerk seines Vorgängers helfen könnten, „unsere Gegenwart zu verstehen und eine sichere Orientierung für die Zukunft zu suchen“, dann kommen mir dabei fast von selbst jene Worte zur Verteidigung des Naturrechts in den Sinn, die Papst Benedikt am 22. September 2011 den Abgeordneten der deutschen Bundesrepublik im Reichstag in Berlin eingeschärft hat, mit denen ich meinen kleinen Beitrag beschließen will: „Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande“, hat der heilige Augustinus einmal gesagt,“ erklärte er damals den Parlamentariern als der Lehrer, der er immer war, und fuhr fort: „Wir Deutsche wissen es aus eigener Erfahrung, dass diese Worte nicht ein leeres Schreckgespenst sind. Wir haben erlebt, dass Macht von Recht getrennt wurde, dass Macht gegen Recht stand, das Recht zertreten hat und dass der Staat zum Instrument der Rechtszerstörung wurde – zu einer sehr gut organisierten Räuberbande, die die ganze Welt bedrohen und an den Rand des Abgrunds treiben konnte. Dem Recht zu dienen und der Herrschaft des Unrechts zu wehren ist und bleibt die grundlegende Aufgabe des Politikers. In einer historischen Stunde, in der dem Menschen Macht zugefallen ist, die bisher nicht vorstellbar war, wird diese Aufgabe besonders dringlich. Der Mensch kann die Welt zerstören. Er kann sich selbst manipulieren. Er kann sozusagen Menschen machen und Menschen vom Menschsein ausschließen. Wie erkennen wir, was recht ist? Wie können wir zwischen Gut und Böse, zwischen wahrem Recht und Scheinrecht unterscheiden?“

Die Bitte des weisen König Salomon an den Gott Jakobs: „Verleih deinem Knecht ein hörendes Herz, damit er dein Volk zu regieren und das Gute vom Bösen zu unterscheiden versteht“ bleibe deshalb entscheidend vor allen Aufgaben, vor der der Politiker und die Politik auch heute stehen. Denn jene „historische Stunde“, von der der emeritierte Papst vor sechs Jahren in Berlin sprach, ist noch lange nicht zu Ende.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

„Die Freiheit befreien. Glaube und Politik im dritten Jahrtausend.“, Mit einem Vorwort von Papst Franziskus und einem bisher unveröffentlichten Text von Benedikt XVI. Hsrg. von Pierluca Azzaro und Carlos Granada (Benedikt XVI./Joseph Ratzinger, Schriften aus meiner Feder, Band 2), Herder, Freiburg 2018. (CNA Deutsch)

Ulrich Nersinger: Die Gendarmen des Papstes

Nersinger_Gendarmen des PapstesSie tragen keine farbenprächtige Uniform, für ein Touristen-Foto taugen die Männer kaum. So wundert es nicht, dass die vatikanische Gendarmerie in der Öffentlichkeit lange im Schatten der Schweizergarde stand – bis zur Vatileaks-Affäre. Ein neues Buch des Vatikan-Kenners Ulrich Nersinger erzählt nun erstmals die Geschichte der Gendarmerie von den Ursprüngen im 14. Jahrhundert bis zum Pontifikat von Franziskus. Ins Rampenlicht der Öffentlichkeit trat die vatikanische Gendarmerie erst mit der Vatileaks-Affäre. Vatikanische Gendarmen verhafteten im Mai 2012 den päpstlichen Kammerdiener Paolo Gabriele. Hätten sie den Dokumentklau nicht verhindern können? Nersinger verneint dies. Die Gendarmen könnten nicht wie ihre deutschen Kollegen den Koffer eines kirchlichen Würdenträgers durchsuchen. (rv)