Heiliges Tattoo! Eine 700 Jahre alte christliche Tradition blüht in Jerusalem

JERUSALEM – In der Altstadt von Jerusalem ist der Pilger umgeben von Geschichte. Eine schnelle Suche auf dem Smartphone führt einen in jahrhunderte-alte Geschäfte, zu den Stufen einer tausend Jahre alten Kirche, vorbei am 3.000 Jahre alten Tempelberg – und alles platzt aus den Nähten. Aber in den steinernen Mauern von „Razzouk Ink“ kann sich der moderne Pilger diese Geschichte als lebenslanges Memento auf den Körper zeichnen lassen.

Christliche Pilger kommen seit den Kreuzfahrerzeiten zur Familie Razzouk, um sich die alten Zeichen christlicher Identität und des Pilgerns einprägen zu lassen. Heute sind die Geräte modern, und manche Entwürfe auch behutsam aktualisiert worden. Doch die Familie Razzouk sticht Tätowierungen aus Jahrhunderte alter Tradition und Geschichte.

Ein in Tinte gestochenes Familienerbe

Wassim Razzouk, 43, ist ein Tätowierungskünstler mit einer Jahrhunderte alten Ahnenreihe: einer 700 Jahre alten, um genau zu sein.

„Wir sind Kopten, wir kommen aus Ägypten, und in Ägypten gibt es eine christliche Tradition des Tätowierens, und schon meine Vorfahren aus uralter Zeit gehörten zu den Tätowierern koptischer Christen“.

Die ersten belegten christlichen Tätowierungen lassen sich in Ägypten und im Heiligen Land zurückverfolgen bis ins 6. oder 7. Jahrhundert. Von dort hat sich die Tradition unter den Ostchristen ausgebreitet, darunter den Äthiopischen, Armenischen, Assyrischen und Maronitischen Kirchen. Bis heute verlangen viele Koptische Kirchen als Beweis für die Zugehörigkeit zum Glauben ein Kreuz-Tattoo oder etwas vergleichbares. (Weitere Traditionen christlicher Tätowierung, etwa unter Kelten und Kroaten, entstand unabhängig davon zu einem späteren Zeitpunkt.)

Mit der Ankunft der Kreuzfahrer im Jahr 1095, zur Befreiung des Heiligen Landes von muslimischen Eroberern, verbreitete sich dann die Tradition auch unter europäischen Christen. Der Brauch, sich als Pilger ins Heilige Land dort zum Abschluss tätowieren zu lassen – eine Tradition, die bis heute fortbesteht – lässt sich bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen.

Bei meinem Besuch des Geschäftes beobachtete ich, wie die Familie Razzouk einen römisch-katholischen Bischof beriet, der sich nach dem Abschluss einer persönlichen Wallfahrt noch in diesem Jahr tätowieren lassen will. Einige Wochen zuvor wurde hier Theophilos tätowiert, der Koptische Bischof des Rosten Meers. Weitere Kunden der Familie Razzouk waren christliche Würdenträger aus Äthiopien, verfolgte Christen, und Pilger aus ganz unterschiedlichen Gemeinden in aller Welt.

Als Wallfahrer kamen ursprünglich auch die ersten Mitglieder der Familie Razzouk nach Jerusalem. Nach vielen Wallfahrten und mehreren Generationen, die vor Ort Pilger und einheimische Christen des Heiligen Landes tätowierten, siedelten sie schließlich im Jahr 1750 permanent um in die Heilige Stadt. Wassim erzählte:

„Seit über 500 Jahren tätowieren wir Pilger im Heiligen Land, und es wurde von Vater zu Sohn immer weitergereicht.“

Künstler und Kunstwerkzeug

Die Wändes des Geschäftes erzählen aus der Familiengeschichte. Neben umrahmten Zeitungsartikeln mit Kunstwerken von Wassim und seinem Vater, Anton, hängen Schaukästen mit Portraits der Vorfahren: Wassims Großater, Yacoub, und Urgroßvater Jirius. Daneben sieht man Kunstwerkzeug wie eine ein traditionelles Gerät zum Stechen der Bilder, sowie ein frühes Tattoo-Instrument.

Traditionell stellten die christlichen Tätowierer ihre Tinte selber her und stempelten Bilder auf die Haut, bevor sie diese mit der Nadel einpausten. Auch wenn Wassim das alte Rezept für Tinte – bestehend aus Ruß und Rotwein – nicht mehr verwendet, sondern lieber moderne, sterilisierte Tinte, sind doch viele der 168 hölzernen Stempel im Besitz der Familie heute noch in Gebrauch.

Wassim stempelt die Entwürfe nicht direkt auf die Haut, sondern übeträgt sie auf ein Pauspapier, dass dann auf die Haut kommt. Während ich Wassim interviewte, sah ich, dass praktisch alle Kunden sich für Elemente dieser uralten Entwürfe entschieden. Zwei Frauen aus dem Westen Armeniens – eine Region, die heute unter türkischer Kontrolle ist – kamen herein und erzählten, dass sie gerade ihre Pilgerreise ins Heilige Land abgeschlossen hätten und nun ein traditionelles Pilger-Tattoo wollten. Ohne Änderungen.

Sie wählten den Stempel eines traditionellen Armenischen Kreuzes aus, ein kleines Kruzifix, dass zarte Blütenblätter als Elemente enthält.

Razzouk stich zum Abschluss das Jahr „2017“ darunter, um an die Zeit der Pilgerfahrt zu erinnern. Jedesmal, wenn die Frauen wieder eine Wallfahrt ins Heilige Land unternehmen, erklärte Wassim, werde dann eine weitere Jahreszahl dazukommen.

Nachdem die Frauen gegangen waren, zeigte man mir eine Schublade mit Dutzenden hölzerner Stempel, von denen jeder einmalig ist. Mehrere Entwürfe basierten auf dem Jerusalemer Kreuz: Ein Kreuz mit gleichlangen Armen, in dessen Viertel wieder je ein kleines Kreuz ist. Andere stellten die Jungfrau Maria dar, den Erzengel Sankt Michael, die Auferstehung Jesu, Lämmer, Rosen oder der Anfang Bethlehems. Ein jeder Stempel enthielt zutiefst christliche Symbolik, und erzählte damit eine Geschichte.

Die meisten Holzblöcke, die aus Oliven- und Zedernholz geschnitzt sind, stammen wohl aus dem 17. Jahrhundert, also aus einer Zeit, in der die Razzouks selber noch Pilger waren. Doch nur zwei Stempel sind verlässlich datiert – einer stammt aus dem Jahr 1749, der andere aus dem Jahr 1912. Doch Wassims Mutter, Hilda, erzählte mir, dass die ältesten Stempel bis zu 600 Jahre alt sind.

Das Retten einer Jahrhunderte alten Tradition

Trotz der tiefen geschichtlichen Verwurzelung und langen Tradition christlicher Pilger, die sich in Jerusalem tätowieren lassen: Immer wieder stand der Brauch kurz vor dem Aussterben.

Im Jahr 1947, dem Krieg für Israelische Unabhängigkeit, flohen viele Palästinenser aus Jerusalem in Sicherheit, darunter auch die Familie Razzouk. Sie kehrten zurück, aber sie waren die Ausnahme: Razzouks waren die einzigen christlichen Tätowierer, die übrig blieben.

Ein weiteres Mal stand die Tradition vor gut zehn Jahren vor dem Aus: Wassim und seine Geschwister entschieden sich, andere Berufe auszuüben.

„Ich wollte das eigentlich nicht werden“, sagte mir Wassim. „Ich stand nicht auf Tätowieren und wollte das also auch nicht machen, dafür verantwortlich sein.“

Somit studierte Wassim lieber Gastwirtschaft und verfolgte andere Interessen. „Eines Tages las ich dann online ein altes Interview mit meinem Vater“, erzählte Wassim. „Er sagte, dass er wirklich traurig sei: Er dachte, diese Tradition und das Familien-Erbe sei am Ende, weil ich es nicht tun wollte.“

Bis vor einem Jahrzehnt war Anton, Wassims Vater, der Tätowiermeister in der Familie. Keines seiner Kinder wollte den altehrwürdigen Beruf ausüben. Der Artikel und diese Realität wog schwer auf Wassims Gewissen. „Ich wollte nicht der Typ sein, dessen Name dafür steht, dass er dies abgebrochen hat – der Typ, der das gekillt hat“, so Wassim.

So begann er eine Lehre bei seinem Vater wie auch bei zeitgenössichen Tattoo-Studios, modernisierte das Geschäft und die Werkzeuge, brachte alles auf den neuesten Sicherheits- und Hygienestand. Dann verlegte er das Geschäft selber, weg aus den verschlungenen Gassen des Christenviertels in die Nähe des geschäftigen Jaffatores.

Heute arbeiten Wassim und Gabrielle, seine Ehefrau, gemeinsam im Studio. Und sie bilden ihre eigenen Kinder im Kunsthandwerk aus, wobei sie aber darauf achten, nicht zuviel Druck auszuüben, dass die nächste Generation sich nicht gezwungen fühlt, das Geschäft zu übernehmen.

Die Kunden sind froh darüber, dass das Familienerbe der Razzouks fortgeführt wird. „Ich kann mir einfach keinen besseren Weg vorstellen, dieser Wallfahrt zu gedenken, als hier mit diesem Laden“, erzählte mir Matt Gates, ein Pilger aus Daphne im US-Bundesstaat Alabama. Er ließ sich ein Jerusalemer Kreuz stechen.

Nach dem spirituell begeisternden, geistlich stärkenden Erlebnis dieser Reise habe diese Tätowierung eine ganz besondere Bedeutung für ihn. „Das ist so ein cooles Erbe, hier sich mit einem 500 Jahre alten Stempel tätowieren zu lassen“, sagte er. „Ich habe eine Menge Tattoos, aber dieses wird so viel mehr bedeuten als alle anderen“. (CNA Deutsch)