Annette Schavan: „Heiliger Stuhl wird immer wichtiger als Partner in Friedensprozessen“

logo_DT_BotschaftDeutschlands neue Botschafterin beim Heiligen Stuhl Annette Schavan hat an diesem Montagvormittag Papst Franziskus im Vatikan ihr Beglaubigungsschreiben überreicht. Die Begegnung verlief in einem Klima großer Herzlichkeit und dauerte länger als die vorgesehenen 15 Minuten, sagte Annette Schavan, die nach der Privataudienz beim Papst zum Interview bei Radio Vatikan vorbeikam. Es sei „eine großartige Begegnung“ gewesen, die sie niemals vergessen werde, so die frühere Bundesbildungsministerin im Gespräch mit Gudrun Sailer.

„Wir haben über die Zukunftschancen der jungen Generation gesprochen, ganz besonders in Europa, aber auch in vielen Teilen der Welt, in denen die junge Generation nicht genügend starke Signale bekommt, dass sie gebraucht wird, dass ihr Kreativität gefragt ist. In dem Zusammenhang haben wir über die Rolle des Sportes in modernen Gesellschaften gesprochen; und natürlich über das, was die Diplomatie und Politik in den vergangenen Wochen so stark beschäftigt: die neuen Krisenherde, Gewalt und Konflikt, vor allem da, wo Religion instrumentalisiert wird, und die wichtige Rolle, die der Vatikan hat; auch darüber, in der Politik in Deutschland an Bemühungen in diesen letzten Wochen vorangetrieben wurde, um Frieden zu sichern und Frieden wiederherzustellen. Und wir haben über China gesprochen, der Papst hat gesagt in seinem Pontifikat wird Asien ein Schwerpunkt sein. Wir haben uns ausgetauscht über Erfahrungen in den letzten Jahren, die wir aus Deutschland und von Regierungskonsultationen in Deutschland. ich auch von meinen Besuchen, zuletzt im Februar, in China gemacht habe, über Sehnsucht junger Menschen nach Spiritualität, und ganz zum Schluss hat auch Romano Guardini eine Rolle gespielt. Sein zentrales Buch, die Gegensatzlehre, die Lehre, dass von den Gegensätzen her Guardini versucht hat, die verschiedenen Lebensbereiche zu beschreiben und am Ende eine Weisheitslehre entsteht, bei der alle Gegensätze in Gott zusammengefasst werden.“

Da spielt natürlich eine Rolle, dass Sie von Ihrer Ausbildung her auch Theologin sind, was nicht das übliche Curriculum ist für einen Botschafter, eine Botschafterin beim Heiligen Stuhl. Meinen Sie, dass das in Ihrer Arbeit zum Tragen kommen wird?

„Jedenfalls ist für eine Theologin die Aufgabe, die ich gerade übernommen habe, ganz besonders interessant. Nach vielen Jahren des politischen Lebens spielt dann das, was in der Theologie erarbeitet worden ist, noch stärker eine Rolle. Ich fand immer, dass das wichtig ist für das öffentliche Leben, aber natürlich jetzt kommt mir vieles in Erinnerung, auch viele Details aus dieser Zeit der intensiven theologischen Beschäftigung.“

Sie haben die Krisenherde und das Wirken des Heiligen Stuhles für den Frieden erwähnt: Wird der Vatikan als Friedensstifter eher unter oder überschätzt?

„Ich kann nicht beurteilen, wie das bisher war. Aber mir scheint, dass in den vergangenen Wochen vielen deutlich geworden ist, auch vielen Verantwortungsträgern international, dass der Heilige Stuhl, dass der Papst persönlich eine ungewöhnliche Autorität ausstrahlt, und deshalb ein zentral wichtiger Partner in den verschiedenen Friedensprozessen ist und immer mehr sein wird.“

Sie sind seit Jahrzehnten eine Beobachterin der katholischen Kirche in Deutschland, eine nicht immer unkritische Beobachterin. Manchmal wirft sich der deutsche Katholizismus selbst vor, sich als Nabel der Welt zu betrachten. Auch vatikanischer Perspektive kann man sagen, dass diese Tendenz in jeder Ortskirche vorhanden ist. Können Sie hier am Heiligen Stuhl dazulernen, die deutsche katholische Befindlichkeit mehr in Bezug zu setzen mit jener in anderen Ländern?

„Ich war nie nur Beobachterin, weil ich seit meiner Taufe Mitglied der katholischen Kirche bin und auch innerhalb der Kirche mich engagiert habe. Jeder Teil, auch die katholische Kirche in Deutschland, trägt ihren Anteil. Wenn ich an die Gründung der großen internationalen Werke denke, Misereor, Adveniat Renovabis, dann hat die KK nie nur sich selbst gesehen, sondern sie hat immer auch den Blick in die Welt gerichtet. Sie hat sich immer auch verstanden einer weltweiten Gemeinschaft, und dennoch ist klar, wer aus einem Teil kommt, kennt drum noch nicht das Ganze. Und deshalb ist die neue Aufgabe für mich eine große Chance, für mich auch zu sehen, wo sind in anderen Teilen der Welt welche Entwicklungen in Gang, und wie entwickelt sich die katholische Welt, die Religion betrifft, die für eine 2000 jährige Christentumsgeschichte steht die aber auch ein Verständnis vom Leben und vielleicht – das sage ich als rheinische Katholikin – eine Lebensart bedeutet. Was kann diese katholische Welt, und was können darüber hinaus die Christen und Christinnen beitragen zu einer guten Entwicklung von Globalisierung, denn sie hat gute Chancen und Seiten, aber nicht nur.“

Deutschland gilt beim Heiligen Stuhl als das Land der Reformation. Sie sind nach vier evangelischen Christen auf dem Botschafterposten beim Heiligen Stuhl die erste Katholikin seit 2002, die Berlin hierher entsendet. Macht das einen Unterschied?

„Es hat zumindest heute einen Unterschied gemacht, weil es nicht nur die Begegnung beim Heiligen Vater gab sondern auch den Besuch in Sankt Peter, mit der gesamten Delegation. Das Gebet der neuen Botschafterin in der Sakramentenkapelle, am Marienaltar und vor dem Petrusgrab. Das ist auch schon sehr eindrucksvoll gewesen – eine ganz andere Erfahrung des Petersdoms, als ich es von den Jahren davor kenne….“

… und welchen Unterschied macht Ihr Katholisch-Sein für Ihren Dienst als solchen?

„Ich bin nicht als Katholikin für die Katholiken in Deutschland in Rom, ich vertrete die Bürgerinnen und Bürger insgesamt. Und das heißt in Deutschland, wir sind Land der Reformation, ja. Und wir versuchen den Dialog, den ökumenischen Dialog zu pflegen, das ist in vielen Städten und Gemeinden wunderbar gelungen. Ich habe allein im vergangenen Jahr auf drei evangelischen Kanzeln gesprochen, in Gottesdiensten am Sonntag, auch zum Geburtstag von Martin Luther. Dann komme ich aus einem Land, das sich zunehmend religiös plural entwickelt. Das hat zum Beispiel dazu geführt, dass ich in meiner früheren Tätigkeit Institute für muslimische und jüdische Studien, vor allem Institute für islamische Studien an Universitäten eingerichtet habe. Deutschland ist ein Land, das viel Erfahrung hat mit der wissenschaftliche Reflexion über Religion, und das hat bislang vor allem bedeutet, mit der wissenschaftliche Reflexion über christliche Religion, katholische, evangelische, jetzt aber ist auch eine Tradition begründet der wissenschaftliche Reflexion des Islam. In den vergangenen Wochen ist es so deutlich geworden, wie wichtig es ist, dass Religion Raum hat und die Fähigkeit, und Bereitschaft der kritischen Selbstreflexion, wie sehr Wissenschaft klärt und aufklärt, und da hat Deutschland schon auch eine wichtige Tradition in die Weltkirche einzubringen, und heute geht von diesem Land und der theologischen Wissenschaft in diesem Land auch der Impuls aus, sich jetzt mit der Theologie und der wissenschaftlichen Reflexion in Afrika, Asien oder Lateinamerika zu verbinden. Das alles gehört zu Deutschland und vieles mehr, und so verstehe ich mich und die neue Aufgabe: wir können in Deutschland auch einen kleinen Beitrag leisten zu der Art der Nachdenklichkeit über Religion, die nicht dazu führt, aufeinander loszugehen, sondern miteinander zu leben.“

Der Vatikan plant eine Ausstellung zum Reformationsgedenken 2017. Sind Sie involviert?

„Ja, wir sind involviert. Die Zeit bis zum Reformationsjubiläum ist eine wichtige Phase, im 21. Jahrhundert deutlich zu machen, was verbindet die Christen, was ist die Substanz, was ist der Kern, und wo entfaltet sich Verschiedenartiges, Plurales. Aber wichtig, und das haben uns die letzten Wochen und Monate überdeutlich gezeigt, wichtig ist, dass Christen und Christinnen auch in zentralen Fragen in der Lage dazu sind, mit einer Stimme zu reden.“

Ins Jahr Ihres Amtsantrittes in Rom fallen allerlei Gedenkanlässe: Die Beziehungen zwischen Deutschland und Heiligem Stuhl wurden 1954 wieder aufgenommen, 1984 bezog die Botschaft ihr heutiges Gebäude, 1989 fiel die Mauer. Das ist viel auf einmal, was planen Sie dazu?

„Wir planen zum 30jährigen Bestehen unserer Residenz ein Konzert und eine Fotoausstellung. Natürlich 25 Jahre Mauerfall und im nächsten Jahr 25 Jahre Wiedervereinigung, das ist ein ganzes Jahr, das uns die Chance gibt, mit Veranstaltungen und Gesprächen diese große Geschichte in Erinnerung zu rufen, wie die Freiheit siegte, und was Christen und Christinnen in der früheren DDR und in den mittel- und osteuropäischen Ländern beigetragen haben zum Sieg der Freiheit. Wie sie sich nicht abgefunden haben mit einem Paternalismus ihrer Systeme, der Angst hatte vor der Freiheit, der immer versucht hat, die Freiheit klein zu halten. Und wie am Ende die Kerzen gesiegt haben. Gerade diese Botschaft beim Heiligen Stuhl wird natürlich diese besonderen Gedenktage und das Jahr vom Herbst 2014 bis zum Herbst 2015 oder in der Vergangenheit vom Herbst 1989 bis zum Herbst 1990 nutzen, um deutlich zu machen, diese große Veränderung in Europa, dieses große Geschenk, dass Deutschland wieder vereinigt wurde, aber vor allem, dass die Freiheit gesiegt hat.“ (rv)

D: „Ein konstruktiver Schritt zur Aufklärung und Aufarbeitung“

Einundsechzig Teilnehmer für einige Stunden – ein wohl eher symbolischer Beginn, aber ein Beginn. An diesem Freitag trat in Berlin zum ersten Mal der Runde Tisch zum Thema Missbrauch zusammen, die Ministerinnen Christina Schröder, Annette Schavan und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hatten eingeladen. Kirchenvertreter, Politiker, Kinderschutz-Vereinigungen und auch Opfervertreter saßen zusammen. Wir haben einen der Teilnehmer, den Provinzialoberen der Jesuiten in Deutschland, P. Stefan Dartmann, gefragt, mit welchem Ziel man in die Gespräche gegangen ist:
„Diese erste konstituierende Sitzung des Runden Tisches hat vor allen Dingen das Ziel gehabt, einmal die Erwartungen an diesen Runden Tisch abzuklären. Es waren ja 61 Teilnehmer dabei, darunter fünf von der katholischen Kirche. Das zeigt auch schon, dass das Thema viel breiter ist, als dass es nur noch ein Thema der Kirche gewesen wäre, sondern dass es alle gesellschaftlichen Gruppen bewegt.“
Waren das denn überhaupt Gespräche, bei so vielen Teilnehmern?
„Nein, es waren Beiträge – man konnte sich zu Wort melden, und wir haben insgesamt etwa 40 kurze Beiträge von den Repräsentanten verschiedener Organisationen gehört, die jeweils klarmachten, was aus der Sicht ihrer Organisation oder ihrer Kompetenz – es waren auch eine ganze Reihe von Wissenschaftlern dabei – für die kommende Arbeit wichtig wäre.“
Wie geht es weiter?
„Es wird jetzt drei Arbeitsgruppen geben; eine dritte Arbeitsgruppe war eigentlich gar nicht vorgesehen, wurde aber spontan während dieses Gespräches von der Bildungsministerin Frau Schavan ins Gespräch gebracht. Diese drei Arbeitsgruppen sind also: einerseits die Frage nach der Prävention und der Intervention. Die zweite Gruppe behandelt das Thema juristische Aspekte, auch die materielle und immaterielle Anerkennung des erfahrenen Leides. Und die dritte Gruppe handelt von Forschung, von Lehre und auch von Weiterbildung und Ausbildung in dem Bereich.“
Die Bild-Zeitung meldet heute, 77 Prozent der deutschen Katholiken hätten den Eindruck, die Kirche versuche, manches zu vertuschen. Ist dieser Runde Tisch ein Schritt in die andere, die richtige Richtung?
„Ich glaube, es geht hier nicht um die Beantwortung der Vorwürfe, die heute in den Zeitungen stehen, sondern es geht hier um einen konstruktiven Schritt zur Aufklärung – um an der Aufklärung und an der Aufarbeitung dieser Fragen mitzuarbeiten. Insofern würde ich sagen, es ist ein Schritt in diese Richtung.“ (rv)

D: „Ein konstruktiver Schritt zur Aufklärung und Aufarbeitung“

Einundsechzig Teilnehmer für einige Stunden – ein wohl eher symbolischer Beginn, aber ein Beginn. An diesem Freitag trat in Berlin zum ersten Mal der Runde Tisch zum Thema Missbrauch zusammen, die Ministerinnen Christina Schröder, Annette Schavan und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hatten eingeladen. Kirchenvertreter, Politiker, Kinderschutz-Vereinigungen und auch Opfervertreter saßen zusammen. Wir haben einen der Teilnehmer, den Provinzialoberen der Jesuiten in Deutschland, P. Stefan Dartmann, gefragt, mit welchem Ziel man in die Gespräche gegangen ist:
„Diese erste konstituierende Sitzung des Runden Tisches hat vor allen Dingen das Ziel gehabt, einmal die Erwartungen an diesen Runden Tisch abzuklären. Es waren ja 61 Teilnehmer dabei, darunter fünf von der katholischen Kirche. Das zeigt auch schon, dass das Thema viel breiter ist, als dass es nur noch ein Thema der Kirche gewesen wäre, sondern dass es alle gesellschaftlichen Gruppen bewegt."
Waren das denn überhaupt Gespräche, bei so vielen Teilnehmern?
„Nein, es waren Beiträge – man konnte sich zu Wort melden, und wir haben insgesamt etwa 40 kurze Beiträge von den Repräsentanten verschiedener Organisationen gehört, die jeweils klarmachten, was aus der Sicht ihrer Organisation oder ihrer Kompetenz – es waren auch eine ganze Reihe von Wissenschaftlern dabei – für die kommende Arbeit wichtig wäre."
Wie geht es weiter?
„Es wird jetzt drei Arbeitsgruppen geben; eine dritte Arbeitsgruppe war eigentlich gar nicht vorgesehen, wurde aber spontan während dieses Gespräches von der Bildungsministerin Frau Schavan ins Gespräch gebracht. Diese drei Arbeitsgruppen sind also: einerseits die Frage nach der Prävention und der Intervention. Die zweite Gruppe behandelt das Thema juristische Aspekte, auch die materielle und immaterielle Anerkennung des erfahrenen Leides. Und die dritte Gruppe handelt von Forschung, von Lehre und auch von Weiterbildung und Ausbildung in dem Bereich."
Die Bild-Zeitung meldet heute, 77 Prozent der deutschen Katholiken hätten den Eindruck, die Kirche versuche, manches zu vertuschen. Ist dieser Runde Tisch ein Schritt in die andere, die richtige Richtung?
„Ich glaube, es geht hier nicht um die Beantwortung der Vorwürfe, die heute in den Zeitungen stehen, sondern es geht hier um einen konstruktiven Schritt zur Aufklärung – um an der Aufklärung und an der Aufarbeitung dieser Fragen mitzuarbeiten. Insofern würde ich sagen, es ist ein Schritt in diese Richtung." (rv)

Vatikan: Ja zu Rundem Tisch – Missbrauchsdebatte in Deutschland

Auch aus dem Vatikan kommt grünes Licht für einen Runden Tisch gegen Kindesmißbrauch in Deutschland, an dem alle großen gesellschaftlichen Kräfte vertreten sind. Die Vatikanzeitung „Osservatore Romano“ lobt die deutsche Bildungsministerin Annette Schavan dafür, dass sie „Null Toleranz“ für Mißbrauch an Schulen und Internaten fordert. Es sei richtig, jetzt „soviel Klarheit zu schaffen wie möglich“ – und zwar an allen Schulen und Bildungseinrichtungen, denn – so das Vatikanblatt – „diese schmerzhafte Frage betrifft ja nicht nur die katholischen Einrichtungen“.
Die deutsche Familienministerin Kristina Schröder hat am Montag einen umfassenden Runden Tisch zum Thema Missbrauch angekündigt – für den 23. April. Die Kirchen werden da mit am Tisch sitzen, zusammen mit anderen wichtigen Vertretern gesellschaftlicher Gruppen: Familienverbänden, Schulträgern, der freien Wohlfahrtspflege, der Ärzteschaft und der Politik. Das Gremium soll Selbstverpflichtungen und Verhaltensregeln erarbeiten. Schröders Zielvorgabe heißt:
„Was ist zu tun, wenn Übergriffe geschehen sind, welche Faktoren fördern Übergriff auf Kinder, und wie können diese vermindert werden? Das sind die Fragen, die an diesem Runden Tisch erörtert werden sollen.“
Mit ihrer Initiative stellt sich die CDU-Ministerin Schröder gegen ihre Kabinettskollegin von der FDP, Sabine Leutheuser-Schnarrenberger. Die Justizministerin fordert weiter einen Runden Tisch speziell mit der Kirche – und zwar, damit diese Entschädigungen an Opfer zahlt. In diesem Punkt springt ihr auch SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles bei. Skeptisch ist Leutheuser-Schnarrenberger hingegen, was die derzeitige Debatte in der Politik um Gesetzesänderungen betrifft.
„Verjährungsfristen zu verlängern, bringt für die Opfer, an denen Mißbrauch begangen wurde und wo diese Taten längst verjährt sind, nichts – weil es rückwirkend keine Verlängerung der Verjährungsfrist mit der Möglichkeit der Strafverfolgung gibt.“
Ähnlich sieht das der Strafrechtler Stefan König – er sagte dem ZDF:
„Verjährungsfristen haben ja viele gute Gründe. Einer davon ist, dass natürlich die Aufklärung eines Vorwurfs umso schwieriger wird – besonders dann, wenn man Zeugen dafür braucht –, je mehr Zeit seit der angeblichen Tat verstrichen ist.“
Für Kriminologen wie Christian Pfeiffer hingegen hätten längere Verjährungsfristen den Vorteil, dass Täter auch nach längerer Zeit noch zu Schadenersatz verpflichtet werden könnten:
„Im Prinzip ist das richtig, weil gerade die Opfer aus einer Zeit, die Jahrzehnte zurückliegt und die jetzt fünfzig oder sechzig sind, endlich die Freiheit haben, darüber zu reden: Früher konnten sie das beim besten Willen nicht. Denen sollten wir entgegenkommen und die Möglichkeit verschaffen, dass sie zum Beispiel die Kosten für eine Therapie, die sie jetzt machen, vom Täter ersetzt bekommen!“
Nachdem der Runde Tisch nun beschlossene Sache ist, verlagert sich die Debatte in Deutschland immer mehr zum Thema Entschädigungen. Die Justizministerin nennt solche Entschädigungen, die die Kirche an Opfer aus früheren Jahrzehnten leisten solle, „ein Stück Gerechtigkeit gegenüber den Opfern, auch wenn sich das erlittene Unrecht materiell nicht aufwiegen lässt“. Die Ministerin übte erneut Kritik an der katholischen Kirche und insbesondere am Vatikan. Sie kritisierte, es gebe, insbesondere bei katholischen Schulen, eine Schweigemauer, die Missbrauch und Misshandlungen verdeckt habe. Verantwortlich dafür sei auch eine Direktive der vatikanischen Glaubenskongregation von 2001, nach der auch schwere Missbrauchsfälle zuallererst der päpstlichen Geheimhaltung unterlägen. Ein Ministeriumssprecher fügte hinzu, die Justizministerin halte den Willen der Kirche zur Zusammenarbeit mit staatlichen Behörden für weiterhin nicht ausreichend. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) befürwortet unterdessen eine „breite und intensive Diskussion“ in Sachen Kindesmissbrauch. Vor einer Gesetzesinitiative würden aber zunächst Experten in den Ministerien über ein geeignetes Vorgehen beraten, sagte ihr Regierungssprecher Ulrich Wilhelm.
Die FDP-Bundestagsfraktion hat die geplante personelle Besetzung des Runden Tisches gegen Kindesmissbrauch durch Bundesfamilienministerin Kristina Schröder deutlich kritisiert. Dass Schröder Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) nicht eingeladen habe, „brüskiert nicht nur die Bundesjustizministerin, sondern auch die Opfer sexuellen Missbrauchs“: Das erklärte der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, Christian Ahrendt, in Berlin. Den Opfern sei „mit der offensichtlich mit heißer Nadel gestrickten Konzeption des Runden Tisches nicht geholfen“, so der FDP-Politiker.
Der Münchner Erzbischof Reinhard Marx hingegen hat den Runden Tisch begrüßt. Es sei gut, Vertreter aller relevanten Gruppen dazu einzuladen, sagte Marx dem „Münchner Merkur“. Dem Skandal des Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen müsse auf breiter Front entgegengetreten werden. Auf die Frage, warum die Bischöfe so lange gebraucht hätten, um Stellung zu beziehen, verwies Marx auf eine Absprache unter den Bischöfen. Auf der Bischofskonferenz hätten alle noch einmal ausgiebig mit Fachleuten darüber reden wollen. Danach sollte eine gemeinsame Erklärung abgegeben werden. „Im Nachhinein weiß ich nicht, ob das richtig war“, räumt der Erzbischof ein.
Der Bamberger katholische Erzbischof Ludwig Schick hat sich für eine Verschärfung des Strafrechts bei Fällen von sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen ausgesprochen. Die Verjährungsfristen sollten auf mindestens 30 Jahre verlängert werden, forderte Schick am Dienstag in Bamberg. Da Missbrauchsdelikte erst später als andere offenbar würden, sei ein solcher Schritt nötig. Die Gerichte würden somit wieder in die Lage versetzt, Straftaten wegen Missbrauchs aufzuklären. Weiter plädierte der Erzbischof dafür, bei jedem begründeten Verdacht sofort die Staatsanwaltschaft zu verständigen. Schick wörtlich: „Das Wichtigste sind die Opfer. Ihnen muss die Justiz Gerechtigkeit zukommen lassen.“
Der frühere Regensburger Domkapellmeister Georg Ratzinger hat eingeräumt, von den früheren Prügel-Praktiken in der Internatsvorschule der „Regensburger Domspatzen“ gewusst zu haben. Der Bruder von Papst Benedikt XVI. sagte der „Passauer Neuen Presse“ mit Blick auf den Internatsleiter: „Wenn ich gewusst hätte, mit welch übertriebener Heftigkeit er vorging, dann hätte ich schon damals etwas gesagt.“ Er verurteile das Geschehene und bitte die Opfer um Verzeihung.
Angesichts immer neuer Fälle von Gewalt und sexuellem Missbrauch an Schulen – und nicht mehr nur kirchlichen – drängen Politik und Verbände auf rückhaltlose Aufklärung. Schon in den nächsten Tagen wollen die Länderminister mit Bundesbildungsministerin Annette Schavan über die Frage des Kindesmissbrauchs sprechen. Der Deutsche Lehrerverband fordert die Ernennung von Sonderbeauftragten durch alle Kultusminister, um Hinweisen in Zusammenarbeit mit der örtlichen Schulaufsicht zügig nachzugehen.
Der Vorsitzende des neu gegründeten katholischen Arbeitskreises in der CSU, Thomas Goppel, verlangt, dass die Kirche bei der Aufklärung der Missbrauchsfälle jetzt nachlegt. Das sagte er im Gespräch mit dem Münchener Kirchenradio. Andererseits dürfe das Fehlverhalten einiger weniger in der Kirche nicht zur Verteufelung der ganzen Institution führen. Das hätten vor allem die Schüler und Eltern in Kloster Ettal klar gemacht, wofür er noch dankbarer sei als für den Aufklärungswillen von Erzbischof Marx. Der Gesprächskreis „ChristSoziale Katholiken in der CSU“ ist am Montag offiziell gegründet worden. Er will sich dafür einsetzen, dass katholische Positionen in der Gesellschaft nicht verloren gehen. (rv)