Süditalien: „Man kann Tiere erschießen, aber doch keine Menschen!“

In Italien hatten sich in der Debatte um illegale Einwanderung die Wogen gerade erst geglättet. Nun kochen sie wieder hoch. Anlass ist eine Revolte von Erntearbeitern im Süden des Landes. Nach Schüssen auf zwei ihrer Leute am letzten Donnerstag gingen die afrikanischen Einwanderer in der Stadt Rosarno auf die Barrikaden. Gewalttätige Auseinandersetzungen folgten. Über 50 Verletzte, darunter Migranten, Sicherheitskräfte und italienische Bürger – so die traurige Bilanz. In den Folgetagen kam es zu weiteren Angriffen auf Afrikaner – die Migranten fühlen sich wie Freiwild. Im Interview mit „Repubblica TV“ ließen die Erntehelfer ihrer Wut und Verunsicherung freien Lauf. „Man kann Tiere erschießen, aber doch keine Menschen! Die Hautfarbe sollte doch keine Rolle spielen. Geht nur mal nach Afrika. In Marokko rührt niemand Italiener an. Wir respektieren nämlich andere Menschen.“ …sagt der 34-jährige Ahmed aus Marokko. Er und seine Kollegen sehen sich als Opfer eines rassistischen Übergriffes. „In der Bibel und im Koran steht: Wir sind gleich! Wir sind nicht zum Unruhestiften in Italien, sondern zum Arbeiten, wir wollen Geld verdienen, das wir nach Hause schicken können. Ich will hier nicht die Caritas um Brot und Milch anbetteln – das interessiert mich nicht, ich will nur arbeiten und Respekt!“ Kirche und Caritas nahmen die Migranten in Schutz. Der Papst erinnerte am Sonntag beim Angelus-Gebet erneut an die Würde eines jeden Einwanderers als Person mit Rechten und Pflichten. Gewalt dürfe aber, so Benedikt, „nie und für niemanden ein Weg sein, Schwierigkeiten zu lösen.“ Die Einwanderer lebten bei Rosarno in einer alten Fabrik ohne Sanitäranlagen und fließendes Wasser – unter schrecklichen Bedingungen. Ihre Situation sei vor allem wegen ihrer „schweren Arbeitsbedingungen belastend, so der vatikanische Staatssekretär Tarcisio Bertone. Pino Demasi, Generalvikar der Diözese Oppido-Palmi bei Rosarno, findet noch klarere Worte. Fakt sei doch, dass sich die zumeist illegalen Einwanderer in der Mangel der Mafia befänden. „Auf der einen Seite gibt es da die lokale Mafia, die so genannte ’Ndrangheta, die diese Bürger unterbuttert und sie bis aufs Letzte ausnutzt. Sie zwingt sie, an diesem schrecklichen Orten zu leben und bezahlt sie kaum. Und auf der anderen Seite gibt es da die Menschen guten Willens aus der Region, die ein Netzwerk der Solidarität aufbauen und die Migranten schützen wollen.“
Zu mehr Solidarität gegenüber afrikanischen Einwanderern rief zuletzt auch Siziliens Caritas mit einer provokanten Weihnachtsaktion auf. So fehlten in der Weihnachtskrippe im Dom von Agrigent die drei Könige. Kaspar, Melchior und Balthasar – so war dort zu lesen – seien „zusammen mit anderen Einwanderern an der Grenze abgewiesen“ worden. Der Erzbischof von Agrigent, Francesco Montenegro:
„Ich kann mich doch nicht von einem Gipskind in der Krippe rühren lassen, das mich an die Ereignisse von vor 2000 Jahren erinnert und andererseits vor echten Kindern, die im Mittelmeer umkommen, gleichgŸltig bleiben – von solchen armen Kleinen sind ja so viele gestorben! Ich kriege diese beiden Dinge jedenfalls nicht zusammen.“ Die Solidarität der Bewohner von Rosarno war offenbar nicht groß genug, als dass sie die Migranten hätte schützen können. Nach den ersten Schüssen am letzten Donnerstag kam es in der Gegend zu weiteren Übergriffen auf Afrikaner. Und wenn dann ausgerechnet die „Gejagten“ noch um Schutz und Hilfe bitten müssen, wirft das auch kein gutes Licht auf die lokale Polizei.
„Wir haben nichts gegen die Leute hier. Das sind gute Leute. Wir wollen nur, dass die Wahrheit zu dieser Geschichte erzählt wird und dass Polizei und Sicherheitskräfte ihre Pflicht erfüllen. Wir arbeiten hier wie die Hunde. Und Italien ohne Einwanderer zählt doch gar nichts!“ Ganz unrecht hat Ahmet damit nicht. Nach einer Statistik der Caritas tragen die italienischen Einwanderer mit 9 Prozent nicht unerheblich zu Italiens Bruttoinlandsprodukt bei. Damit sind wohl weniger illegale Einwanderer gemeint. Wenn man aber – wie derzeit gerne Vertreter der italienischen Rechtspartei „Lega Nord“ – steigende Kriminalität auf illegale Einwanderer zurückführen will, muss man auch über ausbeuterische Schwarzarbeit reden. Denn sie ist es, die den Zustrom illegaler Einwanderer am Laufen halten. (Musik) „Italien ist eine demokratische Republik, die auf Arbeit basiert“ – das Recht auf menschenwürdige Arbeit, in den ersten Artikeln der italienischen Verfassung festgeschrieben – es gilt offenbar nicht für illegale Einwanderer. Auch wenn sie erheblich zur Landwirtschaft beitragen und oft im Baugewerbe arbeiten. Die Aggressionsbereitschaft der afrikanischen Erntehelfern in Kalabrien dürfte sich auch wegen gefallener Obstpreise und Arbeitslosigkeit verschärft haben. Für den italienischen Innenminister Roberto Maroni ist die Gewalteskalation Folge von „falscher Toleranz“. Der Verfechter des umstrittenen „Sicherheitspaketes“ kündigte in einem Interview die direkte Abschiebung der illegalen Migranten an. „Nero precario“, meistens schwarz und rechtlos sind die illegalen Arbeiter, wie eine bekannte italienische Satiresendung vor kurzem polemisch titelte. Dass über Integration und die Rechte der Einwanderer eine breite breite Debatte geführt werden muss, daran erinnerte zuletzt eindringlich der Erzbischof von Mailand. In der Messe zum Dreikönigsfest appellierte Kardinal Dionigi Tettamanzi an die Bevölkerung: „Wir brauchen mehr Einheit unter uns. Und wir brauchen Entschiedenheit und den energischen Willen, in dieser selbst gewählten Gesellschaft neue Erziehungsprojekte voranzutreiben. In Italiens Gesellschaft, die sich auch aus immer mehr Bürgern anderer Nationalitäten zusammensetzt – und das mit gutem Recht – , müssen wir uns alle von unserer besten Seite zeigen. Wir brauchen ein tiefes und gemeinsames Nachdenken über die Werte der Person, jeder Person, über Staatsangehšrigkeit, die Staatsbürgerschaft aller und religiöse Zugehörigkeit.“ Hat im Fall Rosarno der Rechtsstaat versagt? Damasi wirft der Region Kalabrien Versäumnisse vor: „Schon seit dem letzten Jahr gibt es dieses Problem. Die Region hätte sicher ein Gesetz machen müssen, dass Arbeit und Aufenthalt der Saisonarbeiter regelt. Ich denke, dass das Problem nur rechtsstaatlich und vor allem durch den Einsatz der lokalen Behörden gelöst werden kann. Sie können bewirken, dass diese Migranten nicht unter den ausbeuterischen Bedingungen organisierter Verbrecher leben müssen.“ Damasi bewertet die aggressiven Angriffe auf Afrikaner vor diesem Hintergrund als Racheakt der ‘Ndrangheta. „Das war nicht nur ein schlechter Jungenstreich, sondern sicher in eine Logik der Rache eingebettet. Die `Ndrangheta wollte demonstrieren: Uns gibt es, wir machen, was wir wollen und ihr seid uns Untertan.“ Migrantenjagd als Machtdemonstration – auch gegenüber dem italienischen Staat? Dieser hatte dem organisierten Verbrechen vor Kurzem erneut den Kampf angesagt. Diese Möglichkeit schlossen zuletzt auch der Präfekt der Region Reggio Calabria, Luigi Varratta, und das italienische Innenministerium nicht aus (Alfredo Montavano, Untersekretär). Ein Großteil der Einwanderer von Rosarno, darunter auch Migranten mit Aufenthaltsgenehmigung, wurden unterdessen in Auffanglager umgesiedelt. Damit ist in Kalabrien die šffentliche Ordnung wieder hergestellt – die Frage der Integration und der Rechte der afrikanischen Arbeiter bleibt aber weiter ungelöst. (rv)