Missbrauchsbericht in Australien: Horrendes Ausmaß

Ein riesiges Ausmaß von sexuellem Missbrauch in kirchlichen und staatlichen Einrichtungen zeichnet der Abschlussbericht der staatlichen australischen Missbrauchskommission, der am Freitag in Canberra der Regierung übergeben wurde: Zehntausende Kinder und Jugendliche wurden demnach über die Jahre zu Opfern von Missbrauch. Als „horrende“ bezeichnet P. Hans Zollner von der Päpstlichen Kinderschutzkommission im Interview mit Radio Vatikan die Ergebnisse des 100.000 Seiten umfassenden Abschlussdokumentes.

Überproportional hoch: Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen

„Die Zahlen sind enorm. Es handelt sich um Opfer von Missbrauch in staatlichen Stellen, im Sportbereich, beim Militär und bei allen Religionen und kirchlichen Institutionen, die da untersucht wurden. Man sieht, wie weit verbreitet diese Art von Missbrauch ist in der Gesellschaft – viel mehr, als man sich das eingesteht. Der Großteil der Aufmerksamkeit richtet sich dabei auf die Zahlen, die kirchliche Institutionen betreffen – die sind überproportional hoch.“

Auch bei diesen Missbrauchsfällen hätten bestimmte Voraussetzungen zu Missbrauch geführt, erläutert Pater Zollner: „Was die katholische Kirche und auch andere Institutionen angeht, sind es immer dieselben Dinge, das heißt, dort wo eine Institution sich selber als absolut setzt oder von den Angehörigen dieser Institution als absolut gesetzt wird, dort wo keine entsprechenden Supervisionseinrichtungen sind, wo keine Meldeeinrichtungen sind, wo Transparenz und Offenheit auch im Rechtsverfahren nicht genügend befolgt werden, da ist das Risiko, dass Missbrauch nicht nur vereinzelt, sondern häufig geschieht und überdurchschnittlich geschieht, sehr hoch.“

Die Empfehlungen der australischen Missbrauchskommission schlagen unter anderem ein Nachdenken über das Beichtgeheimnis und das Pflichtzölibat für katholische Priester vor. „In der Empfehlung heißt es, man soll darüber nachdenken, ob nicht ein freiwilliges zölibatäres Versprechen eingeführt wird“, so Zollner. Dass dies einen Stein in der Debatte um den Zölibat ins Rollen bringen könnte, glaubt der Jesuit allerdings nicht: „Weil es weltweit diese Art von Beobachtung nicht gibt. Das ist jetzt auch zum ersten Mal, dass eine staatliche Behörde sich da in kirchliche Belange vorwagt. Ich glaube nicht, dass dadurch eine Debatte ausgelöst wird – die gibt es eh schon fast so lange, wie es den Zölibat gibt.“

Es gelte vielmehr weiter darüber nachzudenken, „ob die Leute, die ins Priesterseminar aufgenommen werden, tatsächlich geeignet sind“, so Zollner. „Und wir müssen auch deutlich machen, dass die Ausbildung sowohl während als auch nach der Seminarzeit alles tun muss, damit Menschen, die zölibatär leben wollen, dies auch können im Rahmen dessen, wie sie mit Emotionen, Sexualität, Beziehungen umgehen. Ich erwarte keine grundlegende Diskussion nur aufgrund der australischen Ergebnisse.“ Auch sei die Debatte um die so genannten Viri probati für manche Weltgegenden weiter in Gang, merkt der Jesuit an.

Nachdenken über das Beichtgeheimnis und den Pflichtzölibat

Was das Beichtgeheimnis angehe, stellten sich im Fall von Missbrauch einige Fragen, so Zollner weiter. Wenn etwa ein Minderjähriger während der Beichte darüber berichte, dass er aktuell missbraucht wird – sollte dann das Beichtgeheimnis weiter gültig sein? Über diese Frage werde sowohl in der australischen Missbrauchskommission als auch unter den australischen Bischöfen diskutiert, denen eine Verständigung mit dem Vatikan darüber empfohlen worden sei, so Zollner. Er selbst hat in der Frage eine klare Position: „Ich meine, dass das eindeutig ist, dass es nicht zum Beichtgeheimnis gehört, weil es sich nicht um eine persönlich bekannte Schuld, sondern um ein Verbrechen handelt.“

Die zweite Frage in diesem Kontext sei, ob eine Lossprechung von den Sünden bei einem beichtenden Missbrauchstäter „solange hinausgezögert werden kann, bis sich dieser selber angezeigt habe“: „Ich meine auch dies ist eindeutig, weil es keine Rechtsverpflichtung geben kann, dass sich jemand selber anzeigt – also die Lossprechung kann nicht daran gebunden werden, aber natürlich kann die Lossprechung verweigert werden.“

Kardinal Pell in Australien „persona non grata“

Im Brennpunkt des australischen Missbrauchsskandals steht auch Kurienkardinal George Pell, der als junger Priester an der Vertuschung von Missbrauchsfällen beteiligt gewesen sein soll. Der Kardinal steht in Melbourne wegen des Vorwurfs vor Gericht, als Priester in Ballarat im Schwimmbad zwei junge Männer sexuell belästigt zu haben. Wie stark hat dieser Fall die Glaubwürdigkeit der Kirche, die andererseits auch viel in der Präventionsarbeit geleistet hat, zerstört? Dies wollten wir von Pater Zollner wissen, der in den letzten Monaten Australien mehrmals besuchte:

„Es ist wirklich sehr heftig zu sehen, wie die Grundlage des Vertrauens bei vielen Leuten außerhalb und innerhalb der Kirche zerstört ist. Bei vielen ist es stark erschüttert, das habe ich mehrfach wahrgenommen. Ich bin auch überzeugt, dass die Person von Kardinal Pell und die Anklagen (dazu beigetragen haben), dass das noch mal eine andere Dimension bekommen hat. Ich kann sagen, dass in Australien Kardinal Pell eine ,persona non grata‘, eine unerwünschte Person, ist. Es gibt kaum Leute, die sagen, sie stünden auf seiner Seite. Es gibt aber auch genügend Leute, die sich sozusagen als seine Feinde bezeichnen und die dennoch nicht glauben, dass er selber Missbrauch verübt habe. Er selbst wird in diesem Bericht erwähnt, aber alle Anhaltspunkte seines Verfahrens können aus Rechtsgründen nicht veröffentlicht werden, weil es sich eben um ein schwebendes Verfahren handelt. Die Person des Kardinals ist sehr kontrovers und man wird sehen müssen, wie dieser Prozess ausgeht, der sich aber wohl noch über Jahre hinziehen wird.“ (rv)

Vatikan: Missbrauchsopfer will Klärungen von Kardinal Müller

Radio Vatikan berichtet unter Bezugnahme auf „National Catholic Reporter“ am Dienstag:

„Die irische Missbrauchs-Überlebende Marie Collins, ie jüngst aus Frustration ihr Engagement bei der päpstlichen Kinderschutzkommission beendete, hat einen offenen Brief an Kardinal Gerhard Ludwig Müller geschrieben. Darin wirft sie dem Präsidenten der vatikanischen Glaubenskongregation zögerliches Handeln und mangelndes Interesse an der Arbeit der Kommission vor, die Missbrauch von Kindern durch Kleriker vorbeugen will. Müller hatte sich in einem Interview zum Ausscheiden von Marie Collins aus der Kommission geäußert und gesagt, aus seiner Sicht gebe es keine mangelnde Zusammenarbeit zwischen seiner Behörde und der Kommission.

Collins machte nun ihrem Ärger in einem geharnischten Brief an den Kardinal Luft; der National Catholic Reporter veröffentlichte das Schreiben am Dienstag. Collins wies Müller darin auf Unstimmigkeiten in seinen Aussagen hin. So beanstandete sie erneut, dass ein vom Papst 2015 gewünschtes Sondertribunal zur Aufklärung von Missbrauchsfällen bei der Glaubenskongregation noch immer nicht eingerichtet sei, obwohl Franziskus die nötigen Mittel autorisiert habe. Müller hatte im Interview gesagt, ein solches Gericht sei nicht nötig, weil seine Zuständigkeit von der Bischofskongregation abgedeckt sei. Collins wandte ein, dass trotzdem noch nie ein Bischof wegen Vertuschung von Kindesmissbrauch in seiner Diözese offiziell bestraft worden sei und fragte, ob hier, wenn nicht ein Mangel an Gesetz, so vielleicht ein Mangel an Willen vorliege.

Der deutsche Jesuit Hans Zollner, Mitglied in der Päpstlichen Kinderschutzkommission und Leiter eines Kinderschutzzentrums an der Päpstlichen Universität Gregoriana, hatte in einem Interview mit Radio Vatikan zu den Gründen, die Collins zum Austritt aus der Kinderschutzkommission veranlassten, Stellung genommen. Dabei hatte er betont, dass im Vatikan de facto auch schon bereits vor 2015 der Vertuschung von Missbrauchsfällen nachgegangen worden sei. Ähnlich wie Kardinal Müller findet Zollner: „Man brauchte kein neues Gericht zu schaffen – das gibt es bereits! Und es hat auch funktioniert, auch wenn es nicht so häufig in Anspruch genommen wurde“, so der Jesuit gegenüber Radio Vatikan.

Die päpstliche Kinderschutzkommission sei dazu da, Kinder und verletzliche Erwachsene in der Kirche besser zu schützen, schreibt Collins in ihrem offenen Brief an Kardinal Müller weiter. Das Thema sei zu wichtig, um sich in „Sackgassen welcher Art auch immer“ zu verfahren. „Wenn es Probleme gibt, ist nichts damit gewonnen, so zu tun, als sei alles in Ordnung“. Statt angesichts von Kritik wie der ihren in eine alte Haltung des Abstreitens und Verdunkelns zu verfallen, tue die Kirche besser daran, ihren Angehörigen echte Erklärungen zu bieten. „Wir haben einen Anspruch auf Transparenz, Ehrlichkeit und Klarheit“, so die Irin. Sie hatte ihren Rückzug aus der Kinderschutzkommission mit mangelnder Kooperationsbereitschaft an der römischen Kurie begründet.“ (Quelle rv/ncr)