Papst-Interview: „Ich habe kein persönliches Projekt unterm Arm, sondern führe aus, was wir Kardinäle überlegt haben“

Stefan von KempisDas war ein guter Kerl; der tat, was er konnte, so schlecht war der nicht.“ So ähnlich sollten die Menschen sich später einmal seiner erinnern, hofft Papst Franziskus. Die Zeitung „La Vanguardia“ aus dem spanischen Katalonien veröffentlichte jetzt ein langes Interview mit dem Papst, das sie am Montag in Rom mit ihm geführt hatte – einen Tag nach den Friedensgebeten für den Nahen Osten in den Vatikanischen Gärten. In dem Gespräch äußert sich Franziskus auch zum Stand der Reformen im Vatikan und warnt mit Blick auf Katalonien vor Unabhängigkeitsbestrebungen, die mehr von „Abspaltung“ als von „Emanzipation“ geprägt seien. Hier einige Auszüge aus dem Interview. „Die verfolgten Christen sind eine Sorge, die mir als Hirte sehr nahe geht. Ich weiß sehr viel über Verfolgungen, kann aber aus Vorsicht nicht darüber sprechen, um niemanden vor den Kopf zu stoßen. Aber es gibt Orte, an denen es verboten ist, eine Bibel zu besitzen oder den Katechismus zu lehren oder ein Kreuz zu tragen.“ Die Gewalt im Namen Gottes prägt den Nahen Osten… „Das ist ein Widerspruch. Gewalt im Namen Gottes passt nicht in unsere Zeit. Das ist etwas Altes. Aus historischer Perspektive muss man einräumen, dass wir Christen sie zeitweise praktiziert haben. Wenn ich an den Dreißigjährigen Krieg denke, dann war das Gewalt im Namen Gottes. Heute ist das kaum vorstellbar, nicht wahr? Wir kommen manchmal aus religiösen Gründen zu sehr ernsten, sehr schwerwiegenden Widersprüchen. Fundamentalismus, zum Beispiel. Wir drei Religionen haben jeweils unsere fundamentalistischen Gruppen, klein im Verhältnis zum ganzen Rest.“ Wie denken Sie über den Fundamentalismus? „Eine fundamentalistische Gruppe ist gewalttätig, selbst wenn sie niemanden tötet und niemanden schlägt. Die mentale Struktur des Fundamentalismus ist Gewalt im Namen Gottes.“ Der Hebel für Veränderungen Manche sehen Sie als einen Revolutionär… „Für mich besteht die große Revolution darin, zu den Wurzeln zu gehen, sie zu erkennen und zu schauen, was diese Wurzeln uns heute zu sagen haben. Es gibt keinen Widerspruch zwischen revolutionär und zu den Wurzeln gehen. Vielmehr glaube ich, dass der Hebel, um wirkliche Änderungen herbeizuführen, die Identität ist. Man kann nie einen Schritt machen im Leben, wenn man nicht von hinten losgeht, wenn man nicht weiß, woher ich komme, wie ich heiße, welchen kulturellen und religiösen Namen ich trage.“ Sie haben oft das Protokoll gebrochen, um den Menschen nahe zu sein… „Ich weiß, dass mir mal etwas passieren kann, aber das liegt in den Händen Gottes… Seien wir realistisch, in meinem Alter habe ich nicht mehr viel zu verlieren.“ Warum ist es so wichtig, dass die Kirche arm und demütig ist? „Armut und Demut sind im Zentrum des Evangeliums, und das sage ich in theologischem, nicht soziologischem Sinn. Man kann das Evangelium nicht verstehen ohne die Armut, aber man muss sie vom Pauperismus unterscheiden.“ Was kann die Kirche tun, um die wachsende Ungleichheit zwischen Reichen und Armen zu reduzieren? „Es ist bewiesen, dass wir mit der Nahrung, die übrigbleibt, die Hungernden ernähren könnten. Wenn Sie Fotos von unterernährten Kindern in verschiedenen Teilen der Welt sehen, dann schlägt man die Hände über dem Kopf zusammen, das ist nicht zu verstehen! Ich glaube, wir sind in einem Weltwirtschaftssystem, das nicht gut ist… Wir haben das Geld in den Mittelpunkt gestellt, den Geldgott. Wir sind in den Götzendienst des Geldes verfallen… Wir schließen eine ganze Generation aus, um ein Wirtschaftssystem aufrecht zu erhalten, das nicht mehr zu ertragen ist. Ein System, in das Krieg führen muss, um zu überleben… Aber weil man keinen Dritten Weltkrieg führen kann, führt man eben regionale Kriege. Und was bedeutet das? Dass Waffen produziert und verkauft werden, und dadurch sanieren sich die Gleichgewichte der … großen Weltwirtschaften.“ Die Situation in Spanien Sind Sie besorgt über den Konflikt zwischen Katalonien und Spanien? „Jede Spaltung macht mich besorgt. Es gibt Unabhängigkeit aus Emanzipation und Unabhängigkeit aus Abspaltung. Unabhängigkeiten aus Emanzipation sind z.B. die amerikanischen, sie emanzipierten sich von den europäischen Staaten. Unabhängigkeiten von Völkern aus Abspaltung, das ist eine Zergliederung… Denken wir an das frühere Jugoslawien. Natürlich gibt es Völker mit so verschiedenen Kulturen, dass man sie nicht einmal mit Klebstoff aneinanderkleben kann. Der jugoslawische Fall ist sehr klar, aber ich frage mich, ob es in anderen Fällen so klar ist, bei anderen Völkern, die bis jetzt vereint gewesen sind. Man muss Fall für Fall studieren. Schottland, Padanien, Katalonien. Es wird gerechtfertigte und nicht gerechtfertigte Fälle geben, aber die Abspaltung einer Nation, ohne dass es vorher eine zwangsweise Einheit gab, so etwas muss man mit der Pinzette anfassen und Fall für Fall studieren.“ Die Friedensgebete für den Frieden in Nahost Die Gebete für Frieden im Vatikan waren nicht leicht zu organisieren, weil es dafür keinen Präzedenzfall gab. Wie fühlten Sie sich dabei? „Ich spürte, dass das etwas war, was uns alle übersteigt. Hier im Vatikan sagten 99 Prozent, dass das nicht klappen würde, und danach wuchs dieses eine Prozent immer mehr. Ich spürte, dass wir uns da zu einer Sache gedrängt sahen, die wir so noch nicht kannten und die allmählich dann Gestalt annahm. Es war überhaupt kein politischer Akt, das spürte ich von Anfang an, sondern ein religiöser Akt: ein Fenster zur Welt hin öffnen.“ Warum haben Sie entschieden, sich ins Auge des Taifuns zu begeben, also in den Nahen Osten? „Das wirkliche Auge des Taifuns war – wegen dem Enthusiasmus, den es da gab – der Weltjugendtag von Rio im letzten Jahr! Der Beschluss, ins Heilige Land zu reisen, kam zustande, weil Präsident Peres mich einlud. Ich wusste, dass sein Mandat in diesem Frühling auslief, und sah mich darum gewissermaßen dazu gezwungen, vorher zu fahren. Seine Einladung hat den Reisetermin beschleunigt. Ich hatte das eigentlich nicht so geplant.“ Sie sagen, dass in jedem Christen ein Jude steckt… „Es wäre wohl korrekter zu sagen, dass man sein Christentum nicht wirklich leben kann, wenn man seine jüdische Wurzel nicht anerkennt. Ich spreche vom Judentum im religiösen Sinn. Meiner Meinung nach muss der interreligiöse Dialog das angehen, die jüdische Wurzel des Christentums und die christliche Blüte aus dem Judentum heraus. Ich verstehe, dass das eine Herausforderung ist, eine heiße Kartoffel, aber als Brüder können wir das tun.“ Wir urteilen Sie über Antisemitismus? „Ich wüsste nicht zu erklären, wie er zustande kommt, aber ich glaube, er hängt im Allgemeinen sehr mit der Rechten zusammen. Der Antisemitismus pflegt in den rechten Strömungen besser Fuß zu fassen als in den linken, nicht wahr? Und so geht er weiter. Wir haben sogar Leute, die den Holocaust leugnen – ein Wahnsinn!“ Eines Ihrer Vorhaben ist es, die Vatikan-Archive zum Holocaust zu öffnen. „Das wird viel Licht in die Sache bringen.“ Papst Pius XII. Macht Ihnen Sorge, was man da entdecken könnte? „Was mir bei diesem Thema Sorgen macht, ist die Figur von Pius XII.: Dem armen Pius XII. haben sie wirklich alles Mögliche vorgeworfen. Aber man muss daran erinnern, dass er früher einmal als der große Verteidiger der Juden gegolten hat, er versteckte viele in den Klöstern Roms und anderer italienischer Städte, und auch in der Sommerresidenz Castel Gandolfo. Dort, im Zimmer des Papstes, in seinem eigenen Bett, wurden 42 Babys geboren, Kinder von Juden oder anderen Verfolgten, die sich dorthin geflüchtet hatten. Ich will damit nicht sagen, dass Pius XII. keine Irrtümer begangen hätte – ich selbst begehe auch viele –, aber man muss seine Rolle im Kontext der Epoche lesen. War es zum Beispiel besser, dass er schwieg oder dass er nicht schwieg, damit nicht noch mehr Juden getötet würden? Manchmal ärgert es mich auch ein bisschen, wenn ich sehe, wie alle gegen die Kirche und Pius XII. sprechen und dabei die Großmächte ganz vergessen. Wissen Sie, dass die Großmächte ganz genau das Eisenbahnnetz der Nazis kannten, auf dem die Juden in die KZs gebracht wurden? Sie hatten Fotos davon! Aber sie warfen keine Bomben auf diese Schienen. Warum? Darüber sollten wir auch mal sprechen!“ „Ich bin kein Erleuchteter“ Sie ändern viele Dinge. Wohin führen diese Änderungen? „Ich bin kein Erleuchteter. Ich habe kein persönliches Projekt unterm Arm, sondern ich führe aus, was wir Kardinäle vor dem Konklave auf den Generalkongregationen überlegt haben, als wir jeden Tag über die Probleme der Kirche diskutierten. Da sind Überlegungen und Empfehlungen entstanden. Eine sehr konkrete war, dass der künftige Papst ein Gremium von auswärtigen Beratern brauchte, die nicht im Vatikan wohnen.“ Sie haben daraufhin den Kardinalsrat gegründet… „Das sind acht Kardinäle aus allen Kontinenten und ein Koordinator. Sie treffen sich hier alle zwei oder drei Monate. Anfang Juli haben wir wieder vier Tage Sitzung, und wir führen die Änderungen durch, um die die Kardinäle uns bitten. Es ist nicht obligatorisch, dass wir das machen, aber es wäre unvorsichtig, nicht auf die zu hören, die Ahnung haben.“ Wie denken Sie über den Rücktritt von Benedikt XVI.? „Papst Benedikt hat eine sehr große Geste getan. Er hat eine Tür geöffnet, eine Institution gegründet, die der möglichen emeritierten Päpste… Ich werde dasselbe tun wie er, nämlich den Herrn bitten, dass er mich erleuchte, wenn der Moment kommt, und dass er mir sage, was ich tun soll, und das wird er sicher tun.“ Ich werde Sie nicht fragen, wem Sie bei der WM die Daumen drücken… „Die Brasilianer haben mich gebeten, neutral zu bleiben…“ (lacht) „und ich halte mein Wort, denn Brasilien und Argentinien sind immer Antagonisten.“ Übersetzung: Stefan Kempis, Radio Vatikan (rv)

Überraschung: Papst-Interview in „La Repubblica“

La RepubblicaWieder einmal sorgt der neue Papst für eine Überraschung: Papst Franziskus hat mit dem bekannten italienischen Intellektuellen Eugenio Scalfari am 24. September im Vatikan ein langes Gespräch geführt. Ein Transkript dieses Dialogs veröffentlicht der Nichtglaubende Scalfari in der von ihm gegründeten Tageszeitung „La Repubblica" an diesem Dienstag. Erst unlängst war ein Briefwechsel zwischen Scalfari und Papst Franziskus zum Thema Glauben und Nichtglauben bekannt geworden. Wir veröffentlichen hier die wichtigsten Auszüge aus dem Papst-Interview in unserer eigenen Übersetzung. Hinzufügungen in Klammern stammen vom Übersetzer.

* Die größten Übel heute
„Die schlimmsten Übel, die die Welt in diesen Jahren heimsuchen, sind die Jugendarbeitslosigkeit und die Einsamkeit, der man die Alten überlässt. Die alten Menschen brauchen Pflege und Gesellschaft, die Jungen brauchen Arbeit und Hoffnung, doch sie haben weder das eine noch das andere und suchen deshalb noch nicht einmal mehr danach. Sie werden von der Gegenwart erdrückt. Sagen Sie mir: Kann man so leben, von der Gegenwart erdrückt? Ohne Erinnerung an das Vergangene und ohne den Wunsch, sich für die Zukunft etwas aufzubauen, eine Familie etwa? Kann man so weitermachen? Das ist aus meiner Sicht das dringendste Problem, das die Kirche vor sich sieht… Diese Situation verletzt nämlich nicht nur die Körper, sondern auch die Seelen. Und für beides muss sich die Kirche verantwortlich fühlen."

* Gut und Böse
„Proselytismus ist eine Riesendummheit, er hat gar keinen Sinn. Man muss sich kennenlernen, sich zuhören und das Wissen um die Welt um uns vermehren… Die Welt ist durchzogen von Straßen, die uns voneinander entfernen oder die uns näher zusammenbringen, aber das Entscheidende ist, dass sie uns zum Guten hinführen… Jeder von uns hat seine Sicht des Guten und auch des Bösen. Wir müssen ihn dazu anregen, sich auf das zuzubewegen, was er als das Gute erkannt hat… Das würde schon genügen, um die Welt zu verbessern… Die Liebe zum Anderen, die unser Herr gepredigt hat, ist kein Proselytismus, sondern Liebe. Liebe zum Nächsten, ein Sauerteig, der auch dem Gemeinwohl dient."

* Brüderlichkeit
„Der Sohn Gottes ist Mensch geworden, um in den Seelen der Menschen das Gefühl der Brüderlichkeit zu wecken. Alle Brüder, alle Kinder Gottes. Abba, wie er den Vater anrief. Ich bahne euch den Weg, sagte er. Folgt mir, und ihr werdet den Vater finden und werdet alle seine Kinder sein…"

* Kurie
„Die Führer der Kirche waren oft narzisstisch, von Schmeichlern umgeben und von ihren Höflingen zum Üblen angestachelt. Der Hof ist die Lepra des Papsttums… An der Kurie gibt es manchmal Höflinge, aber insgesamt ist die Kurie etwas Anderes. Sie ist eine Art Intendanz, sie verwaltet die Dienste, die der Heilige Stuhl braucht. Aber sie hat einen Nachteil: Sie ist Vatikan-zentriert. Sie sieht und pflegt die Interessen des Vatikans, die immer noch zu großen Teilen weltliche Interessen sind. Diese Vatikan-zentrierte Sicht vernachlässigt die Welt, die uns umgibt. Ich teile diese Sicht nicht, und ich werde alles tun, um sie zu ändern. Die Kirche ist – oder sie sollte es wieder sein! – eine Gemeinschaft des Volkes Gottes, in der Priester, Pfarrer, Bischöfe als Hirten im Dienst am Volk Gottes stehen. Das ist die Kirche; nicht zufällig ist das ein anderes Wort als Heiliger Stuhl. Dieser hat eine wichtige Funktion, steht aber im Dienst der Kirche. Ich hätte nie vollen Glauben an Gott und an seinen Sohn haben können, wenn ich nicht in der Kirche aufgewachsen wäre, und ich hatte in Argentinien das Glück, mich in einer Gemeinschaft zu finden, ohne die ich nicht zum Bewusstsein meiner selbst und meines Glaubens gefunden hätte."

* Befreiungstheologie
„Viele ihrer Exponenten waren Argentinier… Sicher gaben sie ihrer Theologie politische Folgerungen, aber viele von ihnen waren Gläubige und hatten eine hohe Vorstellung von Menschlichkeit."

* Antiklerikale
„Das passiert mir auch: Wenn ich einen Klerikalen vor mir habe, werde ich schnurstracks antiklerikal. Klerikalismus sollte eigentlich nichts mit dem Christentum zu tun haben. Der heilige Paulus, der als Erster zu den Heiden und den Glaubenden anderer Religionen gesprochen hat, hat uns das als Erster gelehrt…"

* Lieblingsheilige
„Der heilige Paulus hat die Grundsteine unserer Religion und unseres Credo gelegt. Man kann ohne ihn kein bewusster Christ sein. Er übersetzte die Predigt Christi in eine Lehrstruktur, die auch … nach 2.000 Jahren noch aufrecht steht. Und dann Augustinus, Benedikt und Thomas (von Aquin) und Ignatius. Und natürlich Franziskus… Ignatius ist verständlicherweise der, den ich besser als die anderen kenne. Er gründete unseren Orden. Ich erinnere Sie daran, dass aus diesem Orden auch (Kardinal) Carlo Maria Martini kam, der mir und auch Ihnen sehr teuer war. Die Jesuiten waren und sind immer noch der Sauerteig … des Katholischen: Kultur, Lehre, missionarisches Zeugnis, Treue zum Papst. Aber Ignatius … war auch ein Erneuerer und ein Mystiker. Vor allem ein Mystiker… Ich liebe die Mystiker; auch Franziskus war es, in vielen Aspekten seines Lebens…"

* Konklave
„Als mich das Konklave zum Papst wählte, bat ich vor der Annahme (der Wahl) darum, mich für ein paar Minuten in ein Zimmer … zurückzuziehen. Mein Kopf war vollkommen leer, und eine große Furcht hatte mich überkommen. Um sie vorbeigehen zu lassen und mich zu entspannen, habe ich die Augen geschlossen, und jeder Gedanke verschwand – auch der, die Last abzulehnen, wie übrigens die liturgische Prozedur das auch erlaubt. Ich schloss die Augen, und alle Furcht oder Emotionalität war verschwunden. Auf einmal erfüllte mich ein großes Licht – das dauerte nur einen Moment, aber der kam mir sehr lang vor. Dann verlosch das Licht, ich erhob mich und ging in das Zimmer, wo die Kardinäle auf mich warteten und der Tisch, auf dem der Annahme-Akt lag. Ich unterschrieb…"

* Gnade
„Wer nicht von der Gnade berührt wird, kann eine Person ohne Fehl und Angst sein, wie man so sagt, aber er wird nie wie eine Person sein, die die Gnade berührt hat… – Zwischenfrage Scalfari: Fühlen Sie sich von der Gnade berührt? – So etwas kann keiner wissen. Die Gnade gehört nicht zum Bewusstsein, sie ist das Lichtquantum, das wir in der Seele haben… Auch Sie könnten ganz ohne Ihr Wissen von der Gnade berührt sein. – Frage Scalfari: Ohne Glauben? Als Nichtglaubender? – Die Gnade betrifft die Seele. – Scalfari: Ich glaube nicht an die Seele. – Sie glauben nicht daran, aber Sie haben eine. – Heiligkeit, Sie hatten doch gesagt, Sie wollten mich nicht bekehren, und ich glaube, es würde Ihnen auch nicht gelingen! – Das kann man nicht wissen, aber ich habe jedenfalls nicht die Absicht dazu."

* Franz von Assisi
„Er ist einer der Größten, weil er alles zugleich ist. Ein Mann der Tat, er gründet einen Orden und gibt ihm Regeln, er zieht umher und ist Missionar, er ist Dichter und Prophet, er ist Mystiker, … er liebt die Natur, die Tiere, die Grashalme auf der Wiese und die Vögel, die am Himmel fliegen, aber vor allem liebt er die Menschen, die Kinder, die Alten, die Frauen… Er träumte von einer armen Kirche, die sich um die anderen kümmern würde, ohne an sich selbst zu denken. Seither sind 800 Jahre vergangen, und die Zeiten haben sich sehr geändert, aber das Ideal einer missionarischen und armen Kirche bleibt mehr als gültig. Dies ist ja die Kirche, die Jesus und seine Jünger gepredigt haben."

* Die Kirche als Minderheit
„Persönlich denke ich, dass es sogar eine Stärke ist, eine Minderheit zu sein. Wir sollen ja ein Sauerteig des Lebens und der Liebe sein, und Sauerteig ist eine viel, viel kleinere Menge als die Masse der Früchte, Blumen und Bäume, die aus diesem Sauerteig entstehen. Unser Ziel ist nicht der Proselytismus, sondern das Hören auf die Bedürfnisse, Wünsche, Enttäuschungen, Verzweiflungen, auf die Hoffnung. Wir müssen den jungen Leuten Hoffnung wiedergeben, den Alten helfen, die Zukunft aufschließen, die Liebe verbreiten. Arm unter den Armen. Wir müssen die Ausgeschlossenen aufnehmen und den Frieden predigen. Das Zweite Vatikanische Konzil … hat beschlossen, der Zukunft mit einem modernen Geist ins Gesicht zu sehen und sich für die moderne Kultur zu öffnen. Die Konzilsväter wussten, dass Öffnung zur modernen Kultur religiöse Ökumene bedeutete und Dialog mit den Nichtglaubenden. Seitdem ist sehr wenig in diese Richtung getan worden. Ich habe die Demut und den Ehrgeiz, es tun zu wollen."

* Reformen
„Ich bin natürlich nicht Franz von Assisi, und ich habe weder seine Kraft noch seine Heiligkeit. Aber ich bin der Bischof von Rom und der Papst der katholischen Welt. Als erstes habe ich entschieden, eine Gruppe von acht Kardinälen zu ernennen, die meinen Rat bilden sollen. Keine Höflinge, sondern weise Personen, die von denselben Gefühlen bewegt werden wie ich. Das ist der Anfang dieser Kirche mit einer nicht nur vertikalen, sondern auch horizontalen Organisation. Wenn Kardinal Martini davon sprach, dann setzte er den Akzent auf die Konzilien und Synoden, wobei er genau wusste, wie lang und schwierig die Straße in dieser Richtung zu begehen ist."

* Politik
„Warum fragen Sie mich danach? Ich habe schon gesagt, dass sich die Kirche nicht um Politik kümmert… Ich glaube, dass die in der Politik engagierten Katholiken in sich die Werte der Religion haben, aber (auch) ihr reifes Gewissen und die Kompetenz zum Umsetzen. Die Kirche wird nie über die Aufgabe hinausgehen, ihre Werte auszudrücken und zu verbreiten – jedenfalls solange ich hier sein werde… Aber so war es fast nie (in der Geschichte). Sehr oft war die Kirche als Institution dominiert von zeitlichen Interessen, und viele Mitglieder und hohe Vertreter der katholischen Kirche haben noch diese Gefühlslage."

* Glauben und Nichtglauben
„Lassen Sie mich etwas fragen: Sie als nichtglaubender Laie, woran glauben Sie? Sie sind ein Schriftsteller und ein Mann des Denkens. Sie werden also an irgendetwas glauben, Sie werden einen Leitwert haben. Antworten Sie mir nicht mit Worten wie Ehrlichkeit, Suche, Sorge fürs Gemeinwohl… danach frage ich nicht. Ich frage Sie, was Sie von der Essenz der Welt, ja des Universums denken. Sie fragen sich doch sicher wie wir alle, wer wir sind, von woher wir kommen und wohin wir gehen. Selbst ein Kind fragt sich das. Und Sie? – Scalfari: Ich glaube an das Sein, also an das Gewebe, aus dem die Formen hervorkommen. – Und ich glaube an Gott. Nicht an einen katholischen Gott, den gibt es nicht. Gott existiert. Und ich glaube an Jesus Christus, seine Inkarnation… Das ist mein Sein. Kommt es Ihnen so vor, als wären wir weit auseinander?" (rv)

Internationale Presseschau zum Papst-Interview

Washington PostDas freimütige Interview von Papst Franziskus mit Jesuiten-Zeitschriften hat viele überrascht: Die Kirche sei für ihn eine Art Feldlazarett nach der Schlacht, hat der Papst darin u.a. gesagt, da werde nicht lange gefackelt und gezögert, sondern Wunden verbunden und geheilt. Die Morallehre der Kirche sei bekannt, aber man müsse auch nicht immer nur davon sprechen, äußerte er weiter; und: Nein zur spirituellen Bevormundung des Einzelnen. Wie sind erste Reaktionen auf das Interview? Eine Übersicht.

„Ja, kein Zweifel: Papst Franziskus ist neu, anders, reformorientiert und offen." Das schreibt die „Washington Post" in ihrer Online-Ausgabe. Sein Pontifikat bedeute einen „klaren, wenn auch ruhigen Bruch" mit der Linie „vieler Kirchenführer in den letzten zwei Jahrzehnten, vor allem in den USA". Schon vor dem Interview, das am Donnerstag Abend veröffentlicht wurde, habe sich auf dem „rechten Flügel der Kirche" – eine Formulierung von Erzbischof Charles Chaput, Philadelphia – Unruhe gezeigt: „Die Leute auf dem rechten Flügel sind nicht wirklich glücklich über diese Papstwahl, soweit ich das sehe", so Chaput zum „National Catholic Reporter". Bischof Thomas Tobin von Providence wird von der „Washington Post" mit den Worten zitiert, er sei „etwas enttäuscht, dass Papst Franziskus nicht viel zum Thema ungeborenes Leben und Abtreibung sagt". Auch dies ein Zitat noch aus der Zeit vor dem Papst-Interview.

„Er hat zwar nichts gesagt, was die kirchliche Lehre ändern würde", so die „Post". „Aber es wird doch klar, dass er der Kirche eine neue Richtung vorgibt." Kronzeuge des Blattes ist Pater James Martin, Chefredakteur des Jesuitenmagazins „America". „Der Papst ermuntert uns, unsere Prioritäten von den sogenannten heißen Themen hinüber zu Gottes Barmherzigkeit zu verschieben", so Martin. Und wieder die „Post": „Es wäre eine Untertreibung zu sagen, dass das tiefgreifende Folgen für die öffentliche Arbeit der Kirche haben kann – und für die Politik."

Die „New York Times" nennt Franziskus in ihrem Online-Auftritt am Samstag einen „surprise pope", einen Überraschungspapst. „Franziskus fordert den Status quo der katholischen Kirche so entschieden und unerwartet heraus, dass Vatikan-Beobachter dämmert, hier könne mehr vorliegen als eine bloße Änderung im Ton." Einige dächten jetzt, der Papst bereite „den Boden für einen grundlegenderen Richtungswechsel in der Kirche" vor. Dass sich Franziskus am Freitagmorgen nur Stunden nach Bekanntwerden seines Interviews vor Ärzten gegen Abtreibung ausgesprochen hat, deutet die „New York Times" als „Versuch, den Einschlag seines Interviews etwas abzufedern".

„Die Kurie schweigt gegenüber der Herausforderung durch den Papst", urteilt die spanische Zeitung „El Pais", die auch in Lateinamerika viel gelesen wird. „Die Konservativen fragen sich unruhig, wie weit es der Papst mit seinen Öffnungen treiben wird." In Spanien habe „nur die Kirchenbasis der Botschaft des Papstes applaudiert", während die Bischofskonferenz sich einer Stellungnahme verweigere. Als einziger habe der Erzbischof von Valencia, Carlos Osoro (den „El Pais" als möglichen nächsten Erzbischof von Madrid bezeichnet), das Schweigen gebrochen. Franziskus „führt uns auf das Evangelium zurück, und er gibt uns klare Handlungsvorgaben", so der Erzbischof.

„Der Papst bittet um Mitgefühl für Homosexuelle und Frauen, die abtreiben", titelt die Zeitung „Clarín" aus Buenos Aires, der Heimatstadt von Franziskus. Der Papst zeige in dem Interview „einen ausgesprochenen Geist der Erneuerung, aber zugleich Subtilität in seinen Formulierungen". Die Online-Kommentare zu dem Artikel der argentinischen Zeitung sind in der Regel unfreundlich: „Mitgefühl? Für wen hält der sich eigentlich?", schreibt einer. „Wenn man nur daran denkt, dass Bergoglio früher wie eine Furie gegen die Homo-Ehe kämpfte!" Der Papst solle doch lieber die argentinischen Bischöfe zu einem Mea Culpa für ihre Rolle in Zeiten der Militärdiktatur bewegen – „etwas, das er nicht gemacht hat, als er noch Erzbischof von Buenos Aires war". Es folgt eine lange Online-Debatte über den kirchlichen Umgang mit Homosexuellen und mit der gleichgeschlechtlichen Ehe.

Der britische „Guardian" nennt es „faszinierend zu sehen, dass Caravaggio der Künstler ist, den Franziskus am meisten achtet – eine Schwulenikone des Barock und ein Mann von der Straße, dem für seine Werke Prostituierte und Stricher Modell standen". Italienische Zeitungen würdigen das Interview als „revolutionär" und eine „Herausforderung an die Kurie". In „La Stampa" würdigt der Kirchenhistoriker Alberto Melloni das Interview als eine „Rehabilitierung für Hunderttausende von Pfarrern, die seit zwei Tagen nicht mehr Untergrundkämpfer sind". Das eigentlich Neue sei, dass Franziskus „von den Leuten ausgehe und nicht von den Gesetzen, von den Personen und nicht von den –ismen". Viele Bischöfe seien jetzt allerdings durch den neuen Kurs „in Schwierigkeiten". Der katholische US-Philosoph Michael Novak findet hingegen in der „Stampa" die Papstworte „verletzend für alle, die sich für den Lebensschutz engagieren". Franziskus sei offenbar „gar nicht klar, wieviel Schaden er anrichtet". Viele Katholiken gerieten durch den Papst jetzt „in die Defensive, und das in einem Moment, wo sie ohnehin unter Beschuß stehen". Franziskus ermutige „zur Kritik an der Kirche", seine Worte böten sich zur „Instrumentalisierung durch erklärte Kirchengegner" an.

Das meinungsstarke „Il Foglio", das für eine Verschärfung des Abtreibungsrechts in Italien eintritt, zeigte sich unverhohlen enttäuscht. „Untreue Braut" ist das Editorial überschrieben: Franziskus sei „in flagranti beim Ehebruch mit der Welt ertappt" worden, nach dem „Kämpfer" Johannes Paul und der „rationalen Kathedra" Benedikts XVI. sei Bergoglios Feldlazarett „ein Überlebensversuch" der Kirche in der Welt. Die Zeitung druckt den ärgerlichen Offenen Brief eines Katholiken, der sich für Lebensschutz engagiert: „Hat denn der Papst nicht auch mal ein gutes Wörtchen für Leute, die ihrer Ehefrau treu sind und die nicht abtreiben lassen?"

Die französische „Le Monde" erkennt in dem Interview „ein neues Beispiel genau orchestrierter Kommunikation der Jesuiten, zu denen der Papst gehört". Das Pariser Blatt scheint noch nicht an den großen Wechsel in Rom zu glauben; der Soziologe Olivier Bobineau durfte unlängst in „Le Monde" seine These ausbreiten, Franziskus sei „kein Revolutionär", sondern einfach ein „rhetorisch versierter Konservativer".

In der deutschen Kirche treffen die Papstworte offiziell auf große Zustimmung. Freiburgs Erzbischof Robert Zollitsch sagte voraus, das Interview werde nächste Woche bei der Herbstvollversammlung der deutschen Bischöfe zum Thema werden. Der Kölner Kardinal Joachim Meisner sagte am Freitag dem Kölner domradio, Franziskus lasse „keinen Raum für Engstirnigkeit, sondern macht die Tiefe und Weite eines echten katholischen und apostolischen Glaubens deutlich". Der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Alois Glück, zeigte sich begeistert. „Franziskus ist der Wegbereiter einer angstfreien Kommunikation in der Kirche. Das kann man gar nicht hoch genug schätzen", sagte er dem „Tagesspiegel". Die Theologie von Franziskus sei „konsequent den Menschen zugewandt".

„In Sicherheit wiegen sollte sich niemand", kommentiert die „Frankfurter Allgemeine" an diesem Samstag das Papstinterview. Es gehe Franziskus um einen „Wiederaufbau der Kirche": „Barmherzigkeit statt Rigorismus oder Laxheit, Dynamik und Risiko statt Rückzug, Nähe und Verbundenheit statt Funktionärstum und Überheblichkeit". Es werde sich „bald zeigen", zu welchen „Reformen" dieser „neue Geist" führen werde.

Die Vatikanzeitung „Osservatore Romano" druckt das Interview von Franziskus in voller Länge ab, statt es zu verstecken, und kommentiert es auf der Titelseite. Der Papst habe dasselbe literarische Genus gewählt wie andere Päpste – von Paul VI., der sich 1967 mit Jean Guitton unterhielt, bis zu Benedikts XVI. Gesprächen mit Peter Seewald. Daraus werde das ständige Bemühen des Papsttums um einen Dialog mit den Menschen unserer Zeit deutlich. „Das hat auch die Kirche, trotz aller menschlichen Schwächen, immer getan, um dem Wort Christi treu zu bleiben. Dies und nichts anderes tut jetzt auch – verschiedensten Interpretationen zum Trotz – Papst Franziskus." (rv)