Der Kardinal hält nichts vom Wörtchen „neutral“

Der Mailänder Kardinal Angelo Scola gilt als einer der scharfsinnigsten Denker in Italiens Kirche. Seine Predigt gegen einen in Religionsdingen angeblich „neutralen Staat" vor ein paar Tagen hat einige Beachtung gefunden. Scola hatte mit der Anti-Laizitäts-Predigt in Mailand die Feiern zu 1.700 Jahren Mailänder Edikt eröffnet; mit dem Text hatte Kaiser Konstantin den Christen Religionsfreiheit zugestanden. Radio-Vatikan fragte Kardinal Scola: Darf ein Staat in Religionsfragen neutral sein?

„Das Wort neutral ist in diesem Zusammenhang problematisch, weil eine Gesellschaft gar nicht neutral sein kann. Jeder tritt immer automatisch für eine bestimmte Sicht des Lebens ein. Auch wenn ich sage: ,Mir ist alles gleichgültig, ich bin Agnostiker‘, stehe ich damit auch für eine bestimmte Sicht des Lebens. Ich würde eher sagen, der Staat sollte ,akonfessionell‘ sein. Das heißt: Er darf selbst nicht für eine bestimmte Sicht des Lebens stehen, darf aber auch die religiöse bzw. ethische Präsenz, wo es sie im Leben der Gesellschaft gibt, nicht neutralisieren, sondern muss ihre Ausdrucksmöglichkeit fördern. Ich will nicht sagen, der Staat dürfe gar nichts tun, im Gegenteil: Ich sage, der Staat darf intervenieren, regulieren und lenken. Aber er darf dabei noch nicht einmal indirekt eine bestimmte Sicht des Lebens vor anderen bevorzugen: Er darf nur den Wettbewerb zwischen allen Kräften auf dem Platz fördern."

Wir fragten Kardinal Scola auch, ob aus seiner Sicht die Religionsfreiheit in Europa derzeit eingeschränkt oder bedroht ist. Seine Antwort:

„Man muss sehr klar zwei Dinge auseinanderhalten. Die seriösesten Berichte in diesem Bereich sprechen von Einschränkungen der Religionsfreiheit bzw. von Verfolgungen in etwa 123 Ländern weltweit. Doch der Fall Europas liegt etwas anders. Hier gibt es einige Signale, die es aus meiner Sicht nahelegen, an dem Thema noch energischer dranzubleiben als bisher. Das letzte Signal, das mich wirklich sprachlos gemacht hat, war die Initiative einer Vertreterin der französischen Regierung, welche ernstlich erwägt, alle leerstehenden Räumlichkeiten von religiösen Einrichtungen zu beschlagnahmen, um hier Obdachlose unterzubringen."

Es war die Pariser Wohnungsbauministerin Cécile Duflot, die letzte Woche im „Parisien" mit Zwangsmaßnahmen drohte, sollte die Kirche nicht von sich aus Schlaforte für Clochards angesichts der Kältewelle in Frankreich bereitstellen. Kardinal Scola dazu:

„Als ob die französische Kirche nicht schon längst unglaublich viel in diesem Bereich tun würde! Wenn die Kirche leerstehende Räumlichkeiten hat, dann doch sicher aus bestimmten Gründen und weil für diese Räume etwas vorgesehen ist; die stehen ja nicht zufällig leer. Also, da sehe ich die Gefahr von einschränkenden Gesetzen. Und dann heißt es ja auch, man wolle auf europäischer Ebene den sogenannten Gewissensvorbehalt abschaffen. Welche Opposition der Kirche das hervorrufen kann, haben wir in Amerika gesehen; dort wollten einige ausführende Bestimmungen der Gesundheitsreform Obamas alle katholischen Einrichtungen, auch Krankenhäuser und Schulen, verpflichten, ihre Angestellten auch in Bezug auf Verhütung und Abtreibung zu versichern. Das bedeutet, an eine Dimension der Gewissensfreiheit der Christen zu rühren!" (rv)