Papst Benedikt ehrt Leo XIII. – „Phantasie der Nächstenliebe“

Papst Benedikt ehrt seinen Vorgänger Leo XIII.: Am Sonntag feierte er eine Messe in Carpineto Romano. In diesem Städtchen 80 km von der Hauptstadt entfernt wurde Leo XIII. vor zweihundert Jahren geboren. Vor mehreren tausend Gläubigen lobte Benedikt u.a. die berühmte Sozialenzyklika Leos, „Rerum Novarum" aus dem Jahr 1891. In einer Zeit starker anti-katholischer Strömungen habe der Papst es verstanden, die Christen zum Engagement in der Gesellschaft zu ermuntern.
 Carpineto ist eine Messe wert – auch einige bekannte christdemokratische Politiker sind zur Feier mit Papst Benedikt gekommen, etwa Rocco Buttiglione und Pierferdinando Casini. Doch es ist der Bürgermeister namens Quirino Briganti, der als erster eindringlich die Aktualität von Leo XIII. aufzeigt:
„Auch unsere Epoche der weltweiten Abhängigkeiten und der medientechnischen Revolution stellt uns vor die Frage, wie sich eine gerechtere und solidarischere Welt aufbauen läßt. Wir wollen von jetzt an unsere Stadt in ein Labor für soziale Studien verwandeln; dabei soll es um die soziale Frage im Zusammenhang mit allen Widersprüchen unserer heutigen Gesellschaft gehen. Die ethischen Implikationen der Globalisierung, die Rolle des Staates in der Dialektik Kapital und Arbeit, die soziale und territoriale Dimension des wirtschaftlichen und produktiven Forschritts, die Wirtschaftsdemokratie – das sind die Herausforderungen der Zukunft."
„Glaube hängt nicht von Opportunismus ab"
Ähnlich hat das auch Papst Benedikt selbst in seiner eigenen Sozialenzyklika „Caritas in veritate" formuliert – die sich aber ansonsten mehr auf eine Enzyklika Pauls VI. als auf „Rerum novarum" beruft. Der Papst aus Deutschland würdigte vor seinen Zuhörern zunächst einmal den Glauben seines Vorgängers und seine Wertschätzung der Theologie des heiligen Thomas von Aquin: Glaube dürfe „nicht von Enthusiasmus oder von Opportunismus abhängen, sondern muss auf einer wohldurchdachten Entscheidung beruhen". Erst dann kam Benedikt auf die Sozialenzyklika Leos XIII. zu sprechen.
„Die Soziallehre Leos wurde berühmt und unüberbietbar durch Rerum novarum – doch gab es auch viele andere Wortmeldungen zur sozialen Frage aus seiner Feder, die einen organischen Corpus bilden, den ersten Kern der Soziallehre der Kirche."
Benedikt verwies als Beispiel auf eine Enzyklika Leos XIII. gegen die Sklaverei aus dem Jahr 1890. Zwar sei die Sklaverei jetzt abgeschafft, aber es gebe „immer noch Barrieren zu überwinden". Das Christentum trage „auf dem Weg der Zivilisation" viel zur Förderung des Menschen bei, und zwar „auch mit einem bestimmten Stil":
„Im Innern der historischen Realität stellen die Christen, ob sie nun als einzelne Bürger oder als Gruppe handeln, eine wohltuende und friedliche Kraft für einen tiefen Wandel dar, indem sie die inneren Möglichkeiten dieser Realität entwickeln. Die Soziallehre der Kirche setzt immer auf die Reifung der Gewissen als Voraussetzung für gültige und dauerhafte Veränderungen."
„Christen tragen zum Wandel der Gesellschaft bei"
Wie war denn, so fragte der Papst mit einem Seitenblick aufs Heute, der zeitgenössische Kontext, in den der spätere Papst Leo hineingeboren wurde?
„Europa litt noch unter den Nachwirkungen des großen napoleonischen Sturms; die Kirche und viele Elemente der christlichen Kultur wurden radikal in Frage gestellt; der Alltag war hart und schwierig. Gleichzeitig entwickelte sich die Industrie und mit ihr die Arbeiterbewegung, die sich auch politisch immer mehr organisierte. Die kirchliche Soziallehre wurde damals genährt durch viele lokale Erfahrungen…, viele Vor-Ort-Initiativen von Christen: Dutzende und Aberdutzende von Seligen und Heiligen suchten in dieser Zeit mit der Phantasie der Nächstenliebe Wege, um die Botschaft des Evangeliums im Innern der neuen sozialen Realitäten umzusetzen."
Das alles habe den Boden für „Rerum novarum" vorbereitet, so Papst Benedikt. Sein Vorgänger habe früh verstanden, „dass sich die soziale Frage positiv und effizient behandeln läßt, indem man Dialog und Vermittlung fördert":
„In einer Epoche des erbitterten Antiklerikalismus und heftiger Demonstrationen gegen den Papst verstande es Leo XIII., die Katholiken zu einer konstruktiven Teilhabe an der Gesellschaft anzuleiten und sie darin zu unterstützen. Diese Teilhabe war reich an Inhalten, klar in den Prinzipien und gleichzeitig offen nach außen. Gleich nach „Rerum novarum" gab es in Italien und in anderen Ländern eine richtiggehende Explosion von Initiativen: Verbände, ländliche oder Handwerks-Sparkassen, Zeitungen… So konnte ein alter, aber weiser und weitblickender Papst eine verjüngte Kirche ins zwanzigste Jahrhundert führen. Seine Lehre zeugt von der Fähigkeit der Kirche, ohne Komplexe die großen Fragen unserer Zeit anzugehen."
Fast das erste Städtchen mit Straßenlaternen…
Der aus einer Adelsfamilie stammende Gioacchino Pecci wurde am 20. Februar 1878 in Carpineto geboren; im März 1810 wählten ihn die Kardinäle zum Papst. Sein Pontifikat ist eines der längsten der Geschichte; der Verfasser lateinischer Gedichte ist der erste Papst, von dem wir Filmaufnahmen besitzen. In seinem Geburtsort richtete Leo XIII. u.a. einen Kindergarten, eine Schule und ein Altersheim ein; außerdem sorgte er für ein Aquädukt und öffentliche Straßenbeleuchtung… wodurch Carpineto einer der ersten Orte Italiens mit Straßenlaternen wurde. Mit Benedikt XVI. besucht zum dritten Mal ein Papst das Städtchen im Latium. Bei der Messe trug Benedikt XVI. ein Brustkreuz seines Vorgängers und benutzte einen Kelch, den Leo XIII. der Diözese Anagni geschenkt hatte. Der Besuch in Carpineto Romano war die 20. inneritalienische Reise von Benedikt XVI. und zugleich mit zweieinhalb Stunden eine der kürzesten.
„Wenn es um den Aufbau einer neuen Welt geht, haben wir Christen gar keine speziellen Werkzeuge", meint der Bischof von Anagni, Lorenzo Loppa. „Wir haben lediglich radikale Prinzipien und müssen daran arbeiten, dass die immer konkreter werden. Das war zu Leos XIII. Zeiten so, und das gilt auch heute! An Leo XIII. überrascht es, wie er klare Prinzipien und klare Sprache mit einem milden und verständnisvollen Blick auf die Moderne verbindet. Das ist fundamental für unsere Möglichkeit, ins Gespräch mit der Welt zu treten." (rv)