Zwei Jahre Papst Franziskus: Das Gesicht der Kirche ändern

Kardinal Walter KasperFrischer Wind, Zuversicht, neue Hoffnung: alles Dinge, die Papst Franziskus in die Kirche gebracht hat. So charakterisiert Kardinal Walter Kasper die zwei Jahre, die seit der Wahl Jorge Mario Bergoglios zum Papst vergangen sind. An diesem Freitag jährt sich das Konklave zum zweiten Mal. Franziskus habe eine Wende verursacht, denn aufgrund von Vatileaks und den Missbrauchsskandalen habe zuvor eine gedrückte Stimmung geherrscht. „Auffallend und erfreulich ist auch, dass er weit über die katholische Kirche hinaus Achtung und Gehör findet," so Kardinal Kasper im Interview mit Radio Vatikan. Darüber hinaus habe der Papst eine ganze Reihe von Reformen mindestens eingeleitet, Kasper nennt vor allem die Reform der Finanzinstitutionen, die schon weit gediehen sei . Außerdem wolle der Papst die Bischofssynode hervorheben und habe einen synodalen Prozess – den zum Thema Familie – begonnen. „Es ist vieles in Bewegung geraten, und ich denke, dass wir diese Bewegung brauchen. Wenn man stehen bleibt, schläft man ein", so Kasper. Bei all dem sei vor allem das umgesetzt worden, was im Vorkonklave vor über zwei Jahren dem zu wählenden Papst aufgetragen worden sei, nämlich ein mehr pastorales Selbstverständnis vor allem in die Kurie zu bringen.

„Das Entscheidende aber ist: Alle diese äußeren Reformen, so wichtig sie auch sind, setzen eine Mentalitätsreform, eine innere Erneuerung voraus, sonst versanden sie und werden unfruchtbar. Daran arbeitet er vor allem." Deswegen habe er – Kasper – auch die Ansprache des Papstes an die Kurie, in der von fünfzehn Krankheiten die Rede war, als eine Art Exerzitienvortrag zur eigenen Gewissenserforschung verstanden. „Ich denke, dass er [Papst Franziskus] es auch selber so empfunden hat."

Ein radikaler Papst

Vor einigen Wochen hat Kardinal Kasper ein Buch veröffentlicht, in dem er den theologischen und geistlichen Wurzeln Papst Franziskus nachgeht. Er betont dort, dass der Papst nicht in unser „angestaubtes Bild von progressiv und konservativ" hineinpasse. „Das ist ein in der westlichen Welt aufgekommenes Schema, das in den Modernisierungsdiskurs hinein gehört. (…) Ich würde ihn als einen radikalen Papst im ursprünglichen Sinn des Wortes verstehen, der zurück geht auf das Evangelium, die „radix", die Wurzel." Damit stelle er sich in die Tradition der großen christlichen Reformbewegungen. „Das Evangelium ernst nehmen und von da her Zukunft für die Kirche wecken", das sei der Weg, den Papst Franziskus der Kirche weise, so Kardinal Kasper.

Ein zentraler Begriff dazu sei der der Bekehrung, der häufig etwa im programmatischen Papstschreiben Evangelii Gaudium falle, auch wenn er da als „Neuausrichtung" übersetzt werde. Im Original sei aber „Bekehrung" gemeint, urteilt der deutsche Kurienkardinal. Papst Franziskus wolle eine solche Bekehrung – und spreche deswegen auch von der „Bekehrung des Papsttums".

Bei alldem setze der Papst aber vor allem fort, was seine Vorgänger begonnen hätten: Kardinal Kasper sieht keinen Bruch, auch nicht zwischen Franziskus und dem emeritierten Papst Benedikt. Der Kardinal nennt als Beispiel die Barmherzigkeit, einen der wichtigsten Begriffe des Papstes. Das gehe schon auf Papst Johannes XXIII. zurück; wichtig sei auch das geworden, was Johannes Paul II. dazu gesagt habe, und natürlich die Enzyklika Deus Caritas Est von Benedikt XVI. – all diese Akzente fänden sich nun auch bei Papst Franziskus. „In der Persönlichkeit, im Stil gibt es einen großen Unterschied, Benedikt vertritt die klassische europäische Tradition auf einem sehr hohen Niveau, Papst Franziskus kommt von der südlichen Halbkugel und ist von daher geprägt; das sind natürlich Unterschiede, die man auch nicht übergehen darf. Aber es sind Ansätze in der Methode und im Zugang, nicht in den Glaubenswahrheiten."

Wie geht es weiter mit Papst Franziskus?

„Der Papst wird weiter sein Programm abarbeiten," zeigt sich Kardinal Kasper überzeugt. „Aber was er in Evangelii Gaudium aufgestellt hat, ist ein Jahrhundertprogramm, das kann kein Papst innerhalb seiner Amtszeit abarbeiten. Sein Prinzip ist es, nicht so sehr Positionen zu besetzen als Prozesse einzuleiten, die dann nicht mehr umkehrbar sind. Das ist seine Intention." Das habe durchaus praktische Auswirkungen, wie man etwa bei den Kardinalsernennungen sehen könne: „Er will das Gesicht der Kirche verändern – nicht das Wesen – und eine neue Richtung geben." Dazu gehöre das Wahrnehmen der sozialen Probleme heute; so sei die Mehrzahl der Christen heute arm, während wir in Europa insgesamt eher in einer Überflussgesellschaft lebten. Franziskus sei also die Stimme derer, die bisher relativ wenig zu Wort gekommen seien.

Von der Synode erhoffe er sich eine gewisse Öffnung in Ehe- und Familienfragen, so Kasper. Das sei es auch, was viele praktizierende Laien von der Kirche erwarteten. Wie das genau aussehen werde, wisse er aber nicht.

Das Buch von Kardinal Walter Kasper heißt: Papst Franziskus – Revolution der Zärtlichkeit und der Liebe, Theologische Wurzeln und pastorale Perspektiven. Es ist im Verlag Katholisches Bibelwerk erschienen. (rv)

Kardinal Kasper: „Mir Rassismus vorzuwerfen, ist abwegig“

Kardinal Walter Kasper„Es ist selbstverständlich, dass südliche Kirchen sich zu Wort melden und Einfluss nehmen.“ Mit diesen Worten reagiert Kardinal Walter Kasper auf den Vorwurf, er habe sich am Rand der Synode zu Ehe und Familie in rassistischer Weise über afrikanische Ortskirchen geäußert. Der emeritierte deutsche Kurienkardinal hatte am Dienstagabend mit drei Journalisten gesprochen, die vor der Synodenaula auf ihn warteten. Dabei kam die Rede unter anderem auf die Frage, wie afrikanische Bischöfe mit Homosexualität umgehen. „Das ist dort ein Tabu“, sagte Kasper, während andere Ortskirchen sich darum bemühten, Homosexuelle nicht zu diskriminieren. Kasper sagte weiter, es müsse „Raum für örtliche Bischofskonferenzen geben, ihre Probleme zu lösen, aber über Afrika kann ich nichts sagen. Aber sie sollten uns nicht zu sehr sagen, was wir zu tun haben.“ Pater Bernd Hagenkord sprach mit Kardinal Kasper.

„Das war ein zufälliges Gespräch, das ich geführt habe, gar kein Interview, es wurde heimlich aufgenommen. Es liegt mir natürlich jeder Rassismus völlig fern. Ich war in 15 Ländern in Afrika, in manchen mehrfach, und habe mich sehr für die Entwicklung in Afrika eingesetzt , auch finanziell und wirtschaftlich, in jeder Hinsicht. Mir Rassismus vorzuwerfen ist völlig abwegig. Das entspricht in keiner Weise meinem Denken. Ich würde sagen, in Afrika hat man eine etwas andere Kultur, was ja unbestreitbar ist. Und dass wir uns nicht einmischen in Afrika und es natürlich für die Afrikaner schwierig ist, unsere Situation zu beurteilen. Aber doch in keiner Weise würde ich sagen, dass die Afrikaner hier nichts zu melden hätten, das ist ja völlig unsinnig, das wäre gegen jede Kollegialität, die mir sehr am Herzen liegt. Ich bin mit sehr vielen afrikanischen Bischöfen befreundet. Diese ganze Sache ist gemacht worden, es hat mit meiner Überzeugung, mit dem, was ich wirklich gesagt habe, nichts zu tun. Da ist ein Halbsatz oder zwei Sätze herausgezogen worden aus einem längeren Geplauder, das ich hatte und das heimlich aufgezeichnet wurde und dann hochgespielt worden ist.“

Die Afrikaner spielen hier (bei der Synode) eine große Rolle. Man hört sie häufig und auch zu wichtigen Punkten, sie werden ernstgenommen, sie spielen eine große Rolle, nicht?

„Nirgends ist die Kirche im letzten Jahrhundert so sehr gewachsen wie in Afrika. Sie haben recht, so aufzutreten. Ich habe an vielen Gottesdiensten in Afrika teilgenommen und habe selber welche gefeiert, das ist jedes Mal ein Erlebnis: da ist lebendiger Glaube in Afrika. Da lebt das Christentum, mehr zum Teil als bei uns in Europa. Und so haben die Afrikaner allen Grund, hier mit Selbstbewusstsein aufzutreten und ihre Stimme zu erheben. Sie sind ein wichtiger Teil der Kirche geworden, überhaupt: zwei Drittel der Katholiken leben heute in der südlichen Heimsphäre, während in Europa nur noch knapp 25 Prozent leben. Das muss uns klar sein. Und es ist selbstverständlich, dass diese Kirchen sich zu Wort melden und Einfluss nehmen, und das neue Pontifikat ist ein Zeichen dafür, dass ein Papst aus der anderen Hälfte der Welt sozusagen kommt und Haupt der universalen Kirche wird. Das zeigt, man nimmt das ernst, die südliche Hemisphäre, und das wird sicher noch so weiter gehen.“ (rv)

Kardinal Kasper: „Pastorale Herausforderung, nicht Krieg um Lehrmeinungen“

Kardinal Walter KasperKardinal Walter Kasper sieht der bevorstehenden Bischofssynode zum Thema Familienpastoral mit Gelassenheit und Zuversicht entgegen. Auf Polemik wolle er sich nicht einlassen, betonte der emeritierte Kurienkardinal im Gespräch mit Radio Vatikan. In wenigen Tagen soll ein Buch mit Texten von fünf Kardinälen erscheinen, die am Ausschluss von wiederverheirateten Geschiedenen von der Kommunion festhalten wollen. Kardinal Kasper stellt dagegen offen die Frage, ob und unter welchen Bedingungen die katholische Kirche im Einzelfall solche Menschen wieder zu den Sakramenten zulassen kann. Die Texte der Kardinäle Gerhard Ludwig Müller, Walter Brandmüller, Carlo Caffarra, Velasio de Paolis und Raymond L. Burke sind bereits andernorts früher erschienen. Gudrun Sailer sprach mit Kardinal Kasper.

„Natürlich hat jeder das Recht, öffentlich seine Meinung zu sagen. Dagegen ist nichts einzuwenden. Ich habe mich aber gewundert, dass nun die ganze Synode auf einen einzigen Punkt reduziert wird. Es geht um die pastoralen Herausforderungen im Zusammenhang der Neuevangelisierung. Das ist doch viel weiter gesteckt. Es ist eine Insiderproblematik, die hier ins Zentrum gestellt wird. Es geht darum, überhaupt wieder sprachfähig zu werden und über die Schönheit und das christliche Verständnis von Familie zu reden, was heute viele nicht mehr verstehen – es geht um viel grundsätzlichere Probleme als nur dieses. Und zum Zweiten: was ist das für ein Verständnis des Evangeliums – das ist die Frohe Botschaft. Daraus darf man doch keinen Codex von Rechtsvorschriften allein machen und dann sagen, jetzt darf nicht mehr diskutiert werden über diesen Punkt. Damit wird die Synode ja zur Farce. Es hat niemand das Recht, von vornherein zu sagen, was geht und nicht geht. Der Papst will eine offene Debatte, und die soll man führen. Dann in der Synode sehr ruhig im gegenseitigen Aufeinander hören, einer Atmosphäre des Gebets, und dann zum Wohl der Gläubigen heute am Schluss eine Entscheidung fällen. Ich trete in eine Polemik überhaupt nicht ein.“

Die Sorge um die katholische Lehre ist eine zentrale Sorge des Heiligen Stuhles. Können Sie vor diesem Hintergrund Verständnis dafür aufbringen, dass sich in Rom Widerstand regt gegen eine pastoral orientierte Fortentwicklung der Lehre?

„Zweifellos ist die Familie die Zelle der Gesellschaft und die Zelle des kirchlichen Lebens. In der Familie, Ehe und Familie, da kommt Leben und Glauben am engsten zusammen. Es ist eine vitale Lebenswirklichkeit, die zur Ehre eines Sakraments erhoben worden ist. Insofern ist es eine ganz vitale und zentrale Frage für die Kirche, für Ehe und Familie da sein und da Lösungen anzubieten in der Krise, die es heute gibt. Es geht um diese pastoralen Herausforderungen, das ist das Thema der Synode, nicht ein Krieg um Lehrmeinungen. Natürlich, eine Pastoral kann nicht ohne Orientierung an der Wahrheit sein. Aber die Wahrheit ist kein abstraktes System, sondern die Wahrheit ist letztlich Jesus Christus in Person, und wir müssen den Menschen Christus nahebringen. In diesem Sinn muss die Synode an der Wahrheit orientiert sein und Tradition als lebendig sprudelnden Quell und nicht als starres System verstehen.“

Sie beschäftigen sich als Dogmatiker schon seit Jahrzehnten mit dieser Frage. Im Konsistorium vor den Kardinälen haben Sie einen möglichen Weg aufgezeigt, wie man für diese konkrete Situation in Einzelfällen zu einer Lösung kommen kann. Können Sie uns das zusammenfassen: unter welchen Bedingungen und Voraussetzungen wäre es eventuell möglich, wiederverheiratete Geschiedene trotz der Unauflösbarkeit der Ehe zur Kommunion zuzulassen?

„Ich habe eine Frage gestellt, nicht einfach eine Lösung gegeben. Und die Frage habe ich gestellt in Abstimmung mit dem Papst. Darauf lege ich großen Wert. Ich habe gefragt: Wenn eine Ehe gescheitert ist, und leider Gottes scheitern eben heutzutage sehr viele Ehen aus vielfältigen Gründen, dann wird man zunächst alles tun, um das wiederherzustellen. Aber wenn ein Weg zurück nicht möglich ist, wenn jemand eine neue Partnerschaft eingegangen ist, die menschlich gesprochen glücklich ist, gelingt und christlich gelebt wird, wenn da Kinder da sind, dann kann man diese zweite Partnerschaft ja nicht aufgeben ohne neue Schuld. Also muss man sehen, in welcher Weise Gott da eine neue Chance gibt – und Gott tut das. Das ist seine Barmherzigkeit, dass er niemanden fallen lässt, der guten Willens ist. Und jeder tut in seiner Situation, was er tun kann. Und da meine ich, das müsste im Einzelfall pastoral geklärt werden nach einer Zeit der Neuorientierung, man nennt das ,Via poenitentialis‘ – aber die Leute leiden ohnehin genug selber, da braucht man nicht noch große Bußwerke aufzuerlegen. Aber eine Neuorientierung ist notwendig. Dann soll das eine das Sakrament der Buße sein – das ist ja dafür da -, und das Sakrament der Buße bedeutet auch wieder die Zulassung zur Eucharistie. Aber wie gesagt, das ist nicht die Lösung für alle Fälle, vermutlich nur für eine Minderheit von Menschen, die in unseren Gemeinden leben, die darunter leiden und die ein ehrliches Bedürfnis haben nach den Sakramenten, die die Sakramente dringend brauchen, um ihre schwierige Situation zu bewältigen.“

Wie hoch sehen Sie heute die Wahrscheinlichkeit, dass in die Frage des Sakramentenempfangs für die wiederverheirateten Geschiedenen Bewegung kommt?

„Ich bin kein Prophet und kann und will es gar nicht festlegen, was bei der Synode herauskommt. Wir werden jetzt im Oktober zunächst den Status Quaestionis [Stand der Frage, Anm.] festlegen. Die Fragen sind ja auch sehr unterschiedlich in den verschiedenen Kontinenten und Kulturen, es gibt nicht unsere westeuropäischen Probleme ganz allein, es gibt auch andere. Das muss man ein wenig ordnen und bündeln, und dann ist ein ganzes Jahr Zeit, um diese Fragen in den Diözesen, in den Bischofskonferenzen, in den Pfarreien zu besprechen und zu bedenken, und dann wird in einem Jahr darüber entschieden, die Mehrheit der Synode in Gemeinschaft mit dem Papst. Ich sehe dem mit großem Vertrauen entgegen, dass eine Lösung gefunden wird, der die große Mehrheit dann zustimmen wird, die dann der Botschaft des Evangeliums gerecht wird, aber die Botschaft des Evangeliums unter den Bedingungen der Zeichen der Zeit heute zur Geltung bringt, sodass es ein Evangelium der Freude sein wird.“

Wie sehen Sie diese Synode im Lauf des Pontifikates eingeschrieben? Franziskus ist seit eineinhalb Jahren im Amt, und diese Synode wird mit großer Spannung erwartet. Wie sehen Sie diesen Bogen?

„Sicher wird der Papst auch an dieser Synode gemessen werden, denn er will ja das Evangelium den Menschen heute sagen und hat auch das Charisma dafür, das zu tun. Man wird ihn daran messen. Ich habe keine Sorge, dass er diese Probe sozusagen nicht bestehen wird. Es wird eine sehr wichtige Synode sein in diesem Pontifikat, aber es geht nicht nur um dieses Pontifikat, sondern es geht um die Kirche und um die Zukunftsfähigkeit der Kirche, und die entscheidet sich weitgehend in der Familie. In der Familie lernen wir die Sprache, man spricht von der Muttersprache, da wird man eingeführt in die Kultur, in die grundlegenden Werte. Ich selber habe den Glauben nicht gelernt, weil ich Enzykliken gelesen habe, sondern meine Mutter – der Vater war Soldat damals im Krieg – hat mir das beigebracht, man hat das Beten und das christliche Leben in der Familie gelernt, und dazu müssen wir zurückkommen und die Familie zur Kirche im Kleinen, zur Hauskirche machen, wo das christliche Leben wachsen, reifen kann, gerade in einer zunehmenden Diaspora-Situation, wie wir sie bei uns haben, brauchen wir das dringend. Ich denke, das ist wirklich ein Zukunftsprojekt, das bei dieser Synode im Zusammenhang der Neuevangelisierung unternommen wird und dafür brauchen wir auch das Gebet sehr vieler Gläubiger.“ (rv)

Vortrag von Kardinal Kasper zu Ehe und Familie veröffentlicht

Kardinal Walter Kasper„Bibel, Eros und Familie“: Unter diesem Titel veröffentlicht die italienische Tageszeitung Il Foglio an diesem Samstag den kompletten Konsistoriums-Text von Kardinal Walter Kasper. Der deutsche Kurienkardinal hatte am Donnerstag letzter Woche bei Kardinalsberatungen mit dem Papst hinter verschlossenen Türen die Auftakt-Rede gehalten; bei den Beratungen ging es um einen Neuentwurf der kirchlichen Ehe- und Familienseelsorge. Während Papst Franziskus Kaspers Text lobte, rief der Vortrag unter den Kardinälen dem Vernehmen nach zahlreiche Wortmeldungen, auch Widerspruch hervor. Am Montag will die Frankfurter Allgemeine Zeitung eine deutsche Fassung von Kardinal Kaspers Referat publizieren. Es ist sozusagen der Grundlagentext (Kasper selbst spricht von „Ouvertüre“) für die Debatte über Ehe und Familie, die auf vatikanischen Bischofssynoden im Herbst 2014 sowie 2015 geführt werden soll. Was hat Kasper eigentlich gesagt? Unsere Übersicht dazu geht von der italienischen Fassung der Zeitung Il Foglio aus.

„Die Familie macht eine tiefe kulturelle Krise durch“ – dieses Zitat aus dem Apostolischen Schreiben „Evangelii Gaudium“ (Nr. 66) von Papst Franziskus steht am Anfang von Kaspers Überlegungen. „Individualismus und Konsumismus stellen die traditionelle Kultur der Familie in Frage, die wirtschaftlichen und Arbeitsbedingungen machen Zusammenleben und Zusammenhalten innerhalb der Familie oft schwierig.“ Darum steige die Zahl derer, „die Angst davor haben, eine Familie zu gründen, oder bei diesem Projekt scheitern, dramatisch an, ebenso wie die Zahl der Kinder, die nicht das Glück haben, in einer geregelten Familie aufzuwachsen“.

„Wir müssen ehrlich sein“

Diese Lage fordere die Kirche, welche Freud und Leid der Menschen teile, heraus. Die Familie sei, wie Johannes Paul II. formuliert habe, „der Weg der Kirche“, und „in allen Kulturen der Geschichte der Menschheit ist die Familie der normale Weg des Menschen“, so Kardinal Kasper. „Auch heute suchen viele junge Leute das Glück in einer stabilen Familie. Wir müssen allerdings ehrlich sein und zugeben, dass sich zwischen der Lehre der Kirche zu Ehe und Familie und den gelebten Überzeugungen vieler Christen ein Abgrund aufgetan hat. Die Lehre der Kirche scheint heute vielen Christen weit von der Realität und weit vom Leben entfernt.“ Und das, obwohl viele Familien („eine Minderheit, doch eine bemerkenswerte Minderheit“) durchaus ihr Bestes gäben, „um den Glauben der Kirche zu leben“.

Schon in den ersten Jahrhunderten der christlichen Ära sei die Kirche „Ehe- und Familiemodellen konfrontiert gewesen, die sehr anders waren als die, welche Jesus predigte“. Heute könne es der Kirche nicht um „ein liberales Anpassen an den Status quo“ gehen, sondern um eine „radikale Position, die an die Wurzeln geht, also an das Evangelium, und von dort aus nach vorne sieht“. Die kirchliche Lehre zu Ehe und Familie sei nicht statisch, sondern werde immer wieder neu vom Evangelium und der „Glaubenserfahrung des Volkes Gottes aller Jahrhunderte“ am Leben gehalten. „Sie ist eine lebendige Tradition, die heute, wie schon viele andere Male im Lauf der Geschichte, an einen kritischen Punkt gekommen ist und die … fortgeschrieben und vertieft werden sollte.“ Das Evangelium sei „kein juridischer Kodex“, und dementsprechend wolle auch das „Evangelium der Familie keine Belastung sein“, sondern „eine frohe Botschaft, Licht und Kraft des Lebens in der Familie“.

Gretchenfrage: „Wie steht es um den Glauben?“

Kardinal Kasper betont, dass die Sakramente „Sakramente des Glaubens“ seien, das bedeute: „Auch das Ehesakrament kann nur im Glauben wirksam werden und gelebt werden.“ „Die entscheidende Frage lautet: Wie steht es um den Glauben der zukünftigen Eheleute und Ehepartner? In den Ländern alter christlicher Kultur beobachten wir heute den Zusammenbruch dessen, was über Jahrhunderte hinweg Selbstverständlichkeiten des christlichen Glaubens und des natürlichen Verständnisses von Ehe und Familie waren. Viele Personen sind getauft, aber nicht evangelisiert… In dieser Lage können wir nicht von einer Liste von Lehren und Geboten ausgehen oder uns auf die sogenannten brennenden Fragen fixieren.“ Damit zielt Kardinal Kasper unter anderem auf die Frage des kirchlichen Umgangs mit Geschiedenen, die wieder geheiratet haben.

„Wir wollen und können diese Fragen nicht umgehen, aber wir müssen … von der Wurzel des Glaubens ausgehen … und Schritt für Schritt einen Weg des Glaubens zurücklegen. Gott ist ein Gott des Weges; in der Heilsgeschichte hat er einen Weg mit uns zurückgelegt; auch die Kirche hat in ihrer Geschichte einen Weg zurückgelegt. Heute muss sie ihn von neuem zurücklegen, zusammen mit den Menschen der Gegenwart. Sie will den Glauben niemandem aufzwingen. Sie kann ihn nur als Weg zum Glück darstellen und anbieten. Das Evangelium kann nur durch sich selbst und seine tiefe Schönheit überzeugen.“

Nach diesen einleitenden Überlegungen denkt Kasper über „die Familie in der Schöpfungsordnung“ nach. Die Einrichtung der Familie sei „trotz aller Unterschiede“ in verschiedenen kulturellen Kontexten doch „die ursprüngliche Ordnung der Kultur der Menschheit“. Versuchen, heute eine „neue Definition der Familie zu liefern“, könne „kein Erfolg beschieden“ sein, wenn diese Definition „der kulturellen Tradition der ganzen Menschheitsgeschichte widerspricht oder sie ändert“. Die sogenannte Goldene Regel der Bergpredigt (Mt 7,12), die es so ähnlich in nahezu allen Religionen und Kulturen gebe, biete ein „gutes Kriterium“, um Realitäten wie Zwangsheirat oder Prostitution zu beurteilen. „Die entscheidende Frage lautet immer: Was entspricht in der Beziehung zwischen Mann, Frau und Kindern dem Respekt vor der Würde des anderen?“

„Der Mensch ist nicht als Single geschaffen“

Das erste Kapitel des Buches Genesis treffe einige grundlegende Aussagen zum „ursprünglichen Plan Gottes für die Familie“: Die erste sei, dass Mann und Frau „Bild und Gleichnis“ Gottes seien. Der Mensch sei also „nicht als Single geschaffen“, so Kasper; Mann und Frau hätten „die gleiche Würde“, seien deswegen aber „nicht einfach gleich“. „Man wird nicht Mann oder Frau durch die entsprechende Kultur, wie einige neuere Meinungen behaupten. Das Mann- und das Frausein sind ontologisch in der Schöpfung begründet. Die gleiche Würde ihrer Verschiedenheit erklärt die Anziehungskraft zwischen beiden…; sie aus ideologischen Gründen gleichmachen zu wollen, zerstört die erotische Liebe.“

Kasper fährt fort: „Die menschliche Liebe ist etwas Großes und Schönes, aber sie ist nicht von sich aus göttlich.“ Viele Ehen scheiterten heute an „überzogenen Erwartungen“, wenn ein Partner den anderen zunächst überhöhe. „Die Lebensgemeinschaft zwischen Mann und Frau mit ihren Kindern zusammen kann nur glücklich sein, wenn sie sich gegenseitig als ein Geschenk verstehen, das sie übersteigt.“

Des weiteren ergebe sich aus dem Ehe- und Familienbild der Genesis, dass Ehe „nicht etwas in sich selbst Verschlossenes“, sondern auf Fruchtbarkeit hin angelegt sei. „Die Ehe zwischen Mann und Frau und die Weitergabe des Lebens sind nicht voneinander zu trennen. Das gilt nicht nur für den Zeugungsakt, sondern weist darüber hinaus. Die erste Geburt setzt sich in der zweiten, der sozialen und kulturellen, fort.“ Aus biblischer Sicht seien Kinder „eine Frucht des Segens Gottes“; Gott lege „die Zukunft des Volkes und die Existenz der Menschheit in die Hände von Mann und Frau“. Darum bedeute „verantwortliche Elternschaft“ sehr viel mehr als das, wofür der Begriff gemeinhin eingesetzt werde. „Es bedeutet, dass Gott das Wertvollste, was er geben kann, nämlich das menschliche Leben, der Verantwortung von Mann und Frau anvertraut.“ Daraus ergebe sich eine große Verantwortung von Eheleuten und Eltern auch der Gesellschaft gegenüber. „Ihrer Sorge und Verantwortung ist nicht nur das menschliche Leben, sondern auch die Erde allgemein anvertraut.“

„Die Familie ist nicht nur eine persönliche, private Gemeinschaft. Sie ist die grundlegende und lebendige Zelle der Gesellschaft, die Schule der Menschlichkeit und der sozialen Tugenden… Ohne sie wird die Gesellschaft zu einer anonymen Masse… Sie ist auch grundlegendes Modell des Staates und der Menschheit als Familie… Das Evangelium vom Leben ist (darum) gleichzeitig ein Evangelium für das Wohl und den Frieden der Menschheit.“

Ehe und Familie nicht romantisieren

Im zweiten Kapitel seines Vortrags kommt Kardinal Kasper dann auf „Strukturen der Sünde im Leben der Familie“ zu sprechen. Das bisher Ausgeführte sei das „Ideal, aber nicht die Wirklichkeit der Familien“, das illustriere auch das Buch Genesis mit seiner Erzählung vom Sündenfall, der Vertreibung aus dem Paradies und dem Brudermord an Abel. „Die Entfremdung des Menschen von Gott“ führe zur Entfremdung der Menschen untereinander. Etwas sei grundlegend gestört im Verhältnis von Mann und Frau; Frauen müssten unter Schmerzen gebären, zwischen Brüdern brächen schwere Konflikte auf, und auch in der Beziehung des Menschen zur Natur und zur Welt stimme etwas Wesentliches nicht mehr. „Wenn wir von der Familie, von der Schönheit der Familie sprechen, können wir nicht von einem unrealistischen, romantischen Bild ausgehen. Wir müssen auch die harten Realitäten sehen und an der Trauer, den Sorgen und Tränen vieler Familien Anteil nehmen… Wir dürfen nicht der Versuchung nachgeben, die Vergangenheit zu idealisieren und … die Gegenwart als bloße Geschichte des Niedergangs wahrzunehmen.“

Das dritte Kapitel des Kasper-Vortrags gehört dann dem Platz der Familie „in der christlichen Heilsordnung“. Jesus sei „in eine Familiengeschichte eingetreten“, er habe zu Beginn seines Wirkens nach Angaben des Johannesevangeliums an einer Hochzeit teilgenommen und damit „sein ganzes Wirken unter das Zeichen der Ehe und der Hochzeitsfreude gestellt“. Ausführlich beschäftigt sich Kardinal Kasper mit den berühmten Jesusworten gegen die Ehescheidung in Matthäus 19, 3-9; man dürfe sie „nicht isoliert verstehen, sondern im Kontext seiner ganzen Botschaft vom Gottesreich“. Der Bund zweier Eheleute werde in Jesus` Verkündigung „umarmt und gestützt vom Bund Gottes, der wegen Gottes Treue auch dann weitergeht, wenn das schwache menschliche Band der Liebe schwach wird oder sogar reißt“. „Das endgültige Bundes- und Treueversprechen Gottes nimmt der menschlichen Verbindung das Beliebige; es verleiht ihm Solidität und Stabilität.“

„Unauflöslichkeit der Ehe ist Evangelium“

Augustinus habe daraus die Lehre von der Unauflöslichkeit der Ehe entwickelt. „Viele haben heute Schwierigkeiten, diese Lehre zu begreifen“, so Kardinal Kasper. Sie sei aber nichts der Liebe zweier Eheleute „Übergestülptes“, sondern „Evangelium, also endgültiges Wort und Vesprechen, das ewig gültig bleibt. Als solches nimmt sie den Menschen und seine Freiheit ernst. Es ist ein Kennzeichen der menschlichen Würde, endgültige Entscheidungen treffen zu können.“ Wer solche Entschiedungen wieder abstreife, schlage eine „tiefe Wunde“. „Wunden können heilen, aber die Narbe bleibt und schmerzt weiter; man kann und muss aber weiterleben, selbst wenn das Mühe bereitet. Dementsprechend ist die frohe Botschaft Jesu, dass für den, der sich bekehrt, dank der göttlichen Barmherzigkeit Vergebung, Heilung und ein neuer Anfang möglich sind.“

An den Epheserbrief angelehnt schildert Kasper „das Band zwischen Mann und Frau“ als „konkretes Symbol des Bundes Gottes mit den Menschen, der sich in Jesus Christus erfüllt hat“. Das Konzil von Trient habe das auf den sakramentalen Charakter der Ehe bezogen. „Durch sein Eintreten in die Geschichte einer Familie hat Jesus die Familie geheilt und geheiligt; die Heilsordnung umarmt die Schöpfungsordnung. Sie ist nicht körper- und sexualitätsfeindlich, sie schließt Sex, Eros und menschliche Freundschaft ein, reinigt und vervollkommnet sie. So wie die Heiligkeit der Kirche ist auch die Heiligkeit der Familie keine statische Größe, sondern ständig bedroht durch die Hartherzigkeit. Sie muss weitergehen auf dem Weg der Umkehr, der Erneuerung und des Reifens.“ Wie der Zölibat sei auch die Ehe eine „freie Wahl“, beide stützten sich gegenseitig bzw. gerieten gleichzeitig in die Krise, „wie wir das leider derzeit erleben“.

„Das ist die Krise, die wir erleben. Das Evangelium von der Ehe und der Familie ist für viele nicht mehr verständlich, es ist in eine tiefe Krise geraten. Was tun? Schöne Worte allein nützen wenig. Jesus zeigt uns einen realistischeren Weg. Er sagt uns, dass kein Christ allein oder verlassen ist, auch wenn er vom eigenen Partner verlassen wird oder als Kind bzw. Jugendlicher ohne Kontakt zur eigenen Familie aufwächst. Das Evangelium vom Leben konkretisiert sich in der Hauskirche: In ihr kann es von neuem lebbar werden.“

„Seelsorge endet nicht nach dem Scheitern einer Ehe“

Im vierten Redeteil führt Kardinal Kasper dementsprechend aus, was unter der Familie als „Hauskirche“ zu verstehen ist. Hauskirchen hätten schon im frühen Christentum eine wichtige Rolle gespielt, auch das Zweite Vatikanische Konzil habe die Idee von der Hauskirche wieder aufgegriffen. Es gelte nun, der Kernfamilie, die sich seit dem 18. Jahrhundert herausgebildet habe und die heute eine große Strukturkrise durchmache, „im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn neue Häuser zu bauen“. Kasper wörtlich: „Wir brauchen Großfamilien neuen Typs.“ Damit Kernfamilien überleben könnten, bräuchten sie einen „größeren familiären Zusammenhang“: generationenübergreifend, von geistlichen Gemeinschaften geprägt, die ein günstiges Klima und Lebensumfeld für Familien schaffen könnten. Darum müssten Basisgemeinschaften und geistliche Bewegungen in der Kirche gestärkt werden; das hülfe dann auch der Familie.

Das fünfte Kapitel in Kardinal Kaspers Vortrag beschäftigt sich dann mit dem Problem von Geschiedenen, die wiederverheiratet sind: „ein komplexes und dorniges Problem“. „Man kann es nicht auf die Frage der Zulassung zur Kommunion reduzieren. Es betrifft die ganze Ehe- und Familienpastoral. Es beginnt schon mit der Ehevorbereitung, … geht dann weiter mit der pastoralen Begleitung von Eheleuten und Familien und wird aktuell, wenn Ehe und Familie in eine Krise geraten. In dieser Lage werden die Seelsorger alles nur Mögliche tun, um zur Heilung und Versöhnung in der kriselnden Ehe beizutragen. Ihre Sorge endet nicht nach einem Scheitern der Ehe; sie müssen den Geschiedenen nahe bleiben und sie einladen, am Leben der Kirche teilzunehmen.“

„Alle wissen auch“, so Kasper weiter, „dass es Situationen gibt, in denen jeder vernünftige Versuch, eine Ehe zu retten, dennoch umsonst bleibt. Der Heroismus eines verlassenen Partners, der alleinbleibt und alleine weitergeht, verdient unsere Bewunderung und Unterstützung. Aber viele verlassene Partner hängen um des Wohles der Kinder willen von einer neuen Beziehung und einer zivilen Heirat ab, auf die sie nicht verzichten können, ohne neue Schuld auf sich zu laden. Oft lasen diese Beziehungen sie nach den bitteren Erfahrungen der Vergangenheit neue Freude spüren…“

Keine „Barmherzigkeit zu herabgesetztem Preis“

Die Kirche könne in einer solchen Lage „keine Lösung anbieten, die den Worten Jesu entgegengesetzt ist“. Unauflöslichkeit der Ehe und „die Unmöglichkeit einer Wiederheirat, solange der andere Partner noch lebt“, gehörten nun mal zum „bindenden Glaubensgut der Kirche“, das nicht um einer „Barmherzigkeit zu herabgesetztem Preis“ willen aufgegeben werden könne. Gleichzeitig gelte aber auch, dass es wegen Gottes „barmherziger Treue“ keine menschliche Lage gebe, die „ganz ohne Hoffnung und Lösung“ sei. „So tief der Mensch auch fallen kann, er wird nie unter die Barmherzigkeit Gottes fallen.“

„Die Frage ist also, wie die Kirche dieser unauflöslichen Verbindung von Treue und Barmherzigkeit Gottes in ihrer Seelsorge an geschiedenen Wiederverheirateten entsprechen kann. Es ist ein relativ neues Problem, das es … erst seit der Einführung der Zivilehe durch den Code Napoléon von 1804 gibt.“ Wie das letzte Konzil zu neuen Problemfeldern, etwa der Ökumene, Türen geöffnet habe, „ohne die bindende dogmatische Tradition zu verletzen“, könne man sich heute fragen: „Ist nicht auch in dieser Frage eine Weiterentwicklung möglich, die nicht an die bindende Glaubenstradition rührt…?“ Die Antwort könne nur „differenziert“ ausfallen, weil die gegebenen Situationen „sehr unterschiedlich“ seien. „Eine allgemeine Lösung für alle Fälle kann es nicht geben.“

Kardinal Kasper beschäftigt sich etwas ausführlicher mit zwei Fällen, für die er Lösungsmöglichkeiten skizziert. Bei Geschiedenen und Wiederverheirateten, die vor ihrem Gewissen überzeugt seien, dass ihre vorige Ehe eigentlich nicht gültig gewesen sei, frage er sich manchmal, „ob der gerichtliche Weg wirklich der einzige zur Lösung des Problems sein muss und ob nicht mehr seelsorgliche und geistliche Prozeduren möglich wären“. Man könne daran denken, „dass der Bischof diese Aufgabe einem Priester mit geistlicher und seelsorgerischer Erfahrung überträgt“. Kasper wörtlich: „Ist es wirklich möglich, dass man über Wohl und Wehe der Personen in zweiter und dritter Instanz nur auf der Basis von Akten, also von Papier, entscheidet, aber ohne die Person und ihre Situation zu kennen?“

Fünf mögliche Bedingungen für Sakramentenempfang

Der zweite Fall, auf den Kasper eingeht, ist die Frage des Sakramentenempfangs für geschiedene Wiederverheiratete. Er erinnert daran, dass die frühe Kirche für Christen, die dem Glauben in der Verfolgung öffentlich abgeschworen hatten, eine „kanonische Busspraxis als zweite Taufe“ eingeführt hatte, „nicht mit Wasser, sondern mit den Tränen der Reue“. „Für den, der umkehrt, ist Vergebung immer möglich. Wenn sie es für den Mörder ist, dann auch für den Ehebrecher.“ Dementsprechend müsse auch die heutige Kirche „einen Weg jenseits von Rigorismus und Laxismus“ suchen. Reue und Busssakrament hätten die Treue zu Gottes Geboten und Barmherzigkeit Gottes zusammengebracht: „In diesem Sinn war und ist die göttliche Barmherzigkeit keine preisgünstige Gnade, die von der Umkehr dispensiert, und umgekehrt sind die Sakramente nicht ein Preis für jemanden, der sich gut benimmt“.

„Die Frage ist: Ist dieser Weg der Umkehr, der ins Sakrament der Barmherzigkeit, der Busse mündet, auch der Weg, den wir in dieser Frage gehen können? Wenn ein wiederverheirateter Geschiedener 1. das Scheitern seiner ersten Ehe bereut, 2. den Verpflichtungen, die aus der ersten Ehe noch erwachsen, nachkommt, 3. die neue Zivilehe nicht aufgeben kann, ohne neue Schuld auf sich zu laden, 4. sich aber bemüht, seine zweite Ehe im Glauben zu leben und seine Kinder im Glauben zu erziehen, und 5. nach den Sakramenten als Kraftquelle in seiner Lage verlangt – müssen oder können wir ihm nach einer Zeit der neuen Orientierung das Sakrament der Busse und dann der Kommunion verweigern?“

Kasper ermuntert die Kirche zu „geistlicher Unterscheidung, Weisheit und seelsorglichem Augenmass“. Er hoffe, „dass wir im Lauf des synodalen Prozesses eine gemeinsame Antwort finden, um glaubwürdig das Wort Gottes in menschlich schwierigen Situationen zu bezeugen“.

In einer kurzen Schlußfolgerung betont Kardinal Kasper, man dürfe die Debatte über das „Evangelium der Familie“ nicht auf die Frage der wiederverheirateten Geschiedenen oder ähnliche Streitfälle verengen. „Wir brauchen einen positiven Ausgangspunkt…“ In den Familien treffe die Kirche auf „die Lebensrealität“, sie seien „der Prüfstein der Pastoral“. Kasper wörtlich: „Die Familie ist die Zukunft. Auch für die Kirche ist sie der Weg der Zukunft.“ (rv)

Kardinal Kasper gratuliert dem Papst zum 77. Geburtstag

Kardinal Walter KasperGebet als Geburtstagsgeschenk für Papst Franziskus: Kardinal Walter Kasper gratuliert – stellvertretend für viele – bei Radio Vatikan und wünscht dem Papst genau das, was er am meisten braucht und was dieser sich selber wünscht: Betet für mich!

„Papst Franziskus ist ein Geschenk Gottes für die Kirche dieser Zeit. Er ist ein Mann Gottes und ein Mann, der den Menschen nahe ist, vor allem den Armen, den Notleidenden, den Kleinen, den Kranken. Er will eine Kirche, die sich nicht einschließt in alte Formen und Formeln, eine Kirche, die die Fenster und die Türen aufmacht und die allen die nie endende Barmherzigkeit Gottes verkündet. Er lebt, was er predigt.

Selbstverständlich will er keine neue Kirche, aber er will eine erneuerte Kirche – aus dem Geist des Evangeliums, seiner Freude und seiner Hoffnung. Schon nach kurzer Zeit hat er die Atmosphäre in der Kirche verändert, frische Luft hereingelassen. Er hat noch einen weiten und schwierigen Weg vor sich. Er kann ihn nicht allein gehen, er braucht gerade am heutigen Geburtstag das Gebet von uns allen!" (rv)

Kardinal Kasper ermutigt zu weltkirchlichem Blick auf Kirche

Kardinal Walter KasperKurienkardinal Walter Kasper hat dazu aufgerufen, Krisen in der Kirche nicht überzubewerten. „Die gab es immer schon", sagte Kasper am Freitag in seiner Katechese auf dem Eucharistischen Kongress in Köln. Im Interview mit Radio Vatikan nahm der Kardinal vom Standpunkt der Weltkirche aus zu der vielbeschworenen Krisenstimmung innerhalb der katholischen Kirche in Deutschland Stellung:

„Viele Priester sind verunsichert, es sind weniger Priester. Die Gemeinden sind verunsichert, weil sie keinen Pfarrer mehr bekommen oder zusammengelegt werden. Das wird wahrgenommen, aber ich habe den Eindruck, dass sich die Stimmung momentan weltweit sehr verändert. Seit der Papstwahlt haben wir auch in Rom eine völlig andere Stimmung. Und Deutschland ist ein wichtiges Land in Europa, auf der anderen Seite dürfen wir uns in Deutschland auch nicht überschätzen und davon ausgehen, Deutschland sei 'der Nabel der Welt'. Das sind wir einfach nicht mehr."

Vielmehr rät der Kurienkardinal, der tagtäglich die kirchliche Lebendigkeit in Rom erfährt und seinen Lebensalltag an der Kurie für einen Besuch auf dem Eucharistischen Kongress in Köln unterbrochen hat, zu einem weltkirchlichen Blick:

„Wir sind ja nur ein kleiner Prozentsatz der Weltkirche, die ja mehrheitlich, zu Dreiviertel, in der südlichen Hemisphäre, lebt. Deshalb haben wir jetzt auch einen Papst aus dieser Hemisphäre, wo es eine andere Agenda mit ganz anderen Fragen und zum Teil auch anderen, begeisternden Impulsen gibt, die tiefer gehen. Das ist nicht nur ein oberflächliches Interesse an einem neuen Papst, sondern das Gefühl: 'Wir wagen einen neuen Schritt in die Zukunft hinein.' Das ist eine positive Stimmung und trägt dann auch weiter."

Und von dieser positive Stimmung innerhalb der Kirche, die für Walter Kasper in Rom selbstverständlich geworden ist, spürt der Kardinal dann aber doch auch etwas bei seinem Deutschlandbesuch in Köln. Für sein deutsches Heimatland hält der Kardinal den Eucharistischen Kongress und mit ihm die Besinnung auf das Wesentliche im Glauben für…

„sehr notwendig. Man erlebt, dass man nicht isoliert ist, sondern gehört einer großen Gemeinschaft an, erlebt eine positive Stimmung. Das trägt einen weiter, hinaus in die Pfarreien und die Gesellschaft hinein, um dort sagen zu können: Wo stehen wir gegenwärtig als Kirche? Wir gehen also nicht zurück, sondern wollen eine Vertiefung – aber um auf das Wesentliche, auf das Zentrum zurückzukommen: Wohin sollen wir gehen? Wo ist die Alternative? Und ich denke, in unserer Gesellschaft gibt es keine wirkliche Alternative zum christlichen Glauben. Wir respektieren jeden, der nicht dieser Überzeugung ist, aber wir sagen mit einem gewissen Zutrauen: Wir haben Worte des Lebens – nicht unsere Worte, sondern die Worte Christi!" (rv)

Nichts überstürzen: Kardinal Kasper zum bevorstehenden Konklave

Kardinal KasperDie Kardinäle sollten den Beginn des Konklaves nicht überstürzen: Kardinal Walter Kasper, der älteste der Teilnehmer, plädiert im Gespräch mit Radio Vatikan dafür, sich Zeit zu lassen. Pater Bernd Hagenkord hat den Kardinal gefragt, wie er sich auf das kommende Konklave vorbereitet.

„Momentan ist die Situation sehr unübersichtlich. Man betet, man überlegt, wie die Situation der Kirche ist, welche Herausforderungen es gibt. Und dann überlegt man, wie die Figur eines künftigen Papstes aussehen kann. Für mich ist nicht entscheidend, woher er kommt und welche Nationalität er hat, es ist die Person, die zählt. Man schaut sich die Namen, die in den Zeitungen stehen, an und kommt selber auch noch auf andere Namen; ich denke, dass es da auch noch eine Überraschung geben kann. Ich habe mich bis jetzt nicht festgelegt und lege mich auch nicht fest.
Man redet auch miteinander; nicht, indem man Bündnisse schließt – das soll man nicht tun und das ist auch untersagt – aber man tauscht sich aus über die Notwendigkeiten, die die Kirche heute hat und was da für geistliche Dinge sind. Ich denke, dass das Konklave letztlich ein geistlicher und liturgischer Akt ist und nicht eine politische Versammlung.“

Eine Frage, die wir alle uns jetzt stellen, ist die, ob es jetzt relativ schnell zu einem Konklave kommen wird. Werden die Kardinäle erst diskutieren wollen oder erst wählen, um dann mit dem neuen Papst die Probleme anzugehen?

„Ich persönlich bin dafür, dass wir uns vor dem Konklave Zeit nehmen, um uns zu treffen. Nicht, um die Probleme zu lösen, denn das können wir erst mit dem Papst zusammen, das ist klar. Sondern um zu überlegen, was für eine Art von Papst wir jetzt brauchen und die Kirche jetzt braucht. Ich denke, da sollten wir uns noch etwas Zeit nehmen und das jetzt nicht in Eile machen. Wie lange das dann geht, das kann ich nicht voraussagen. Ich hoffe, dass wir dann nicht nur eine Person wählen; die Probleme sind so groß, in der Kurie, aber vor allem in der Weltkirche, dass ein einziger Papst allein das nicht schultern kann. Der braucht mehrere um sich herum, er braucht ein Gremium von Kardinälen und Bischöfen und vielleicht auch Laien. Er braucht die Kollegialität der Bischöfe und der Kardinäle und der Bischöfe hier, darauf käme es mir an: Den Papst nicht allein zu lassen, denn das kann keiner wie es im Augenblick ist. Vielleicht könnte man da ein wenig was vorbereiten.“

Benedikt XVI. hat den Kardinälen durch das Motu Proprio ja Spielraum gegeben. Meinen Sie, dass dieser Spielraum genutzt werden wird?

„Soweit ich sehen kann, gibt es da zwei Richtungen. Es gibt eine Richtung die sagt, dass man das bald anfangen soll, damit die Bischöfe in der Karwoche auch wieder zu Hause sein können – das ist die eine Richtung. Die andere Richtung sagt: ‚Jetzt mal nichts überstürzen, nicht eilen’. Ich selber gehöre mehr zu dieser zweiten Richtung. Welche dann unter den Kardinälen die Mehrheit findet, das kann ich nicht voraussagen. Das wird etwas vom ersten sein, was wir entscheiden müssen: Wann das Konklave beginnt. Aber das ist in die Hand der Kardinäle gegeben.“ (rv)

Kardinal Kasper: „Eine neue Phase des Papsttums beginnt“

Kardinal Walter KasperSchweigen, Respekt und Denken an das, was jetzt kommt, spricht aus den ersten Reaktionen während und nach der Rücktrittsankündigung von Papst Benedikt XVI. Im Konsistorium am Montag mit dabei war Kardinal Walter Kasper, der ehemalige Präsident des Päpstlichen Ökumenerates. Pater Bernd Hagenkord hat ihn gefragt, was ihm in diesem Moment und danach durch den Kopf ging.

„Zunächst waren wir alle völlig perplex und erstaunt. Es ist ein Schweigen ausgebrochen, wir wussten zunächst nichts zu sagen. Natürlich war da Respekt für die Entscheidung, es zeigt ja auch Größe, wenn man die eigene physische Schwäche in dieser Weise artikuliert und sagt, ich bin nicht mehr in der Lage, das Amt in der Weise, wie ich es selber erwarte, auszuüben. Diese Demut und Größe ist anerkannt worden.
Aber dann ist im Gespräch mit einigen Kardinälen auch sofort angesprochen worden, dass das ein Einschnitt ist in der Geschichte des Papsttums. Das hat Folgen für die kommenden Pontifikate. Ich will nicht sagen, dass es ein Präzedenzfall ist, aber es ändert die Sicht des Pontifikates, es de-sakralisiert es im gewissen Sinn. Und macht das Amt im gewissen Sinn auch menschlich, weil es deutlich macht, dass dahinter ein Mensch steht, der alt wird und der mit den normalen Beschwerden des Alters zu tun hat. Es ist jetzt eine neue Phase des Papsttums angebrochen.“

Wie ist denn im Augenblick die Stimmung im Vatikan?

„Es ist immer noch die Stimmung wie nach einem Erdbeben, und nach einem solchen Erdbeben wird es zunächst einmal still. Man wartet jetzt, was kommt. Aber dann kommt auch schon die Überlegung, die jeder Kardinal, der am Konklave teilnimmt, mit sich herum trägt: Für wen entscheide ich mich jetzt? Es gibt ja keinen, der wie der geborene Nachfolger erscheint. Das ist die allgemeine Stimmung. Man tauscht sich natürlich etwas aus mit Kardinälen, mit denen man befreundet ist, das ist ganz normal, um einfach auch sein eigenes Gewissen zu schärfen.
Es ist die Stimmung einer gewissen Unsicherheit.
Die bevorstehende Sedisvakanz wird lang sein, denn die zweieinhalb Wochen bis zur eigentlichen Sedisvakanz sind ja auch eine unvorhergesehene Zwischenzeit, und dann geht es noch einmal mindestens fünfzehn Tage, bis das Konklave beginnt. Ich hoffe, dass die katholischen Christen und auch andere es als eine Zeit der Besinnung und des Gebets nehmen, denn darauf sind wir auch als Kardinäle in dieser Situation sehr angewiesen.“

Sie selber sind in leitender Position gewesen, Sie sind noch keine achtzig, sie dürfen also am Konklave teilnehmen. Obwohl Sie um einige Jahre jünger sind als Josef Ratzinger / Benedikt XVI., werden auch Sie älter. Wie nehmen Sie die Situation menschlich wahr?

„Ich bin sehr berührt von seiner menschlichen Entscheidung. Ich kenne ihn jetzt genau seit fünfzig Jahren. Da ist sehr viel Begegnung und auch manche theologisch unterschiedliche Meinung, das ist etwas Normales gewesen. Ich war erst vor Kurzem zum Abendessen bei ihm eingeladen und das war eine wunderbare Begegnung, sehr freundschaftlich, sehr persönlich, sehr freundlich, brüderlich.
Jetzt denke ich natürlich an diesen Abend zurück – da ist man bewegt. Natürlich habe ich gesehen, dass er physisch sehr abnimmt, dass er sehr schmal und zerbrechlich geworden ist.
Er hat die Entscheidung lange überlegt und lange durchgebetet, das ist nicht von heute auf morgen gefallen, das ist gereift. Er hat ja am Schluss auch gesagt, er habe die Gewissheit bekommen. Das war schon eine durchbetete, auch durchlittene Entscheidung, wie ich annehme.
Und das ist dann auch menschlich. Wenn man eine Person so lange kennt, geht das einem, wie man so sagt, unter die Haut.“ (rv)

Kardinal Kasper: „Eine neue Phase des Papsttums beginnt“

Kardinal Walter KasperSchweigen, Respekt und Denken an das, was jetzt kommt, spricht aus den ersten Reaktionen während und nach der Rücktrittsankündigung von Papst Benedikt XVI. Im Konsistorium am Montag mit dabei war Kardinal Walter Kasper, der ehemalige Präsident des Päpstlichen Ökumenerates. Pater Bernd Hagenkord hat ihn gefragt, was ihm in diesem Moment und danach durch den Kopf ging.

„Zunächst waren wir alle völlig perplex und erstaunt. Es ist ein Schweigen ausgebrochen, wir wussten zunächst nichts zu sagen. Natürlich war da Respekt für die Entscheidung, es zeigt ja auch Größe, wenn man die eigene physische Schwäche in dieser Weise artikuliert und sagt, ich bin nicht mehr in der Lage, das Amt in der Weise, wie ich es selber erwarte, auszuüben. Diese Demut und Größe ist anerkannt worden.
Aber dann ist im Gespräch mit einigen Kardinälen auch sofort angesprochen worden, dass das ein Einschnitt ist in der Geschichte des Papsttums. Das hat Folgen für die kommenden Pontifikate. Ich will nicht sagen, dass es ein Präzedenzfall ist, aber es ändert die Sicht des Pontifikates, es de-sakralisiert es im gewissen Sinn. Und macht das Amt im gewissen Sinn auch menschlich, weil es deutlich macht, dass dahinter ein Mensch steht, der alt wird und der mit den normalen Beschwerden des Alters zu tun hat. Es ist jetzt eine neue Phase des Papsttums angebrochen.“

Wie ist denn im Augenblick die Stimmung im Vatikan?

„Es ist immer noch die Stimmung wie nach einem Erdbeben, und nach einem solchen Erdbeben wird es zunächst einmal still. Man wartet jetzt, was kommt. Aber dann kommt auch schon die Überlegung, die jeder Kardinal, der am Konklave teilnimmt, mit sich herum trägt: Für wen entscheide ich mich jetzt? Es gibt ja keinen, der wie der geborene Nachfolger erscheint. Das ist die allgemeine Stimmung. Man tauscht sich natürlich etwas aus mit Kardinälen, mit denen man befreundet ist, das ist ganz normal, um einfach auch sein eigenes Gewissen zu schärfen.
Es ist die Stimmung einer gewissen Unsicherheit.
Die bevorstehende Sedisvakanz wird lang sein, denn die zweieinhalb Wochen bis zur eigentlichen Sedisvakanz sind ja auch eine unvorhergesehene Zwischenzeit, und dann geht es noch einmal mindestens fünfzehn Tage, bis das Konklave beginnt. Ich hoffe, dass die katholischen Christen und auch andere es als eine Zeit der Besinnung und des Gebets nehmen, denn darauf sind wir auch als Kardinäle in dieser Situation sehr angewiesen.“

Sie selber sind in leitender Position gewesen, Sie sind noch keine achtzig, sie dürfen also am Konklave teilnehmen. Obwohl Sie um einige Jahre jünger sind als Josef Ratzinger / Benedikt XVI., werden auch Sie älter. Wie nehmen Sie die Situation menschlich wahr?

„Ich bin sehr berührt von seiner menschlichen Entscheidung. Ich kenne ihn jetzt genau seit fünfzig Jahren. Da ist sehr viel Begegnung und auch manche theologisch unterschiedliche Meinung, das ist etwas Normales gewesen. Ich war erst vor Kurzem zum Abendessen bei ihm eingeladen und das war eine wunderbare Begegnung, sehr freundschaftlich, sehr persönlich, sehr freundlich, brüderlich.
Jetzt denke ich natürlich an diesen Abend zurück – da ist man bewegt. Natürlich habe ich gesehen, dass er physisch sehr abnimmt, dass er sehr schmal und zerbrechlich geworden ist.
Er hat die Entscheidung lange überlegt und lange durchgebetet, das ist nicht von heute auf morgen gefallen, das ist gereift. Er hat ja am Schluss auch gesagt, er habe die Gewissheit bekommen. Das war schon eine durchbetete, auch durchlittene Entscheidung, wie ich annehme.
Und das ist dann auch menschlich. Wenn man eine Person so lange kennt, geht das einem, wie man so sagt, unter die Haut.“ (rv)

„Ein Papst auf der Höhe der Zeit“

Am Montag wird Joseph Ratzinger 85 Jahre alt. Zu denjenigen, die ihn schon lange kennen, gehört Kardinal Walter Kasper. Radio Vatikan hat ein Interview mit dem langjährigen, inzwischen emeritierten Präsidenten des Päpstlichen Einheitsrates geführt und wollte zunächst von ihm wissen, wann er dem heutigen Papst eigentlich das erste Mal begegnet ist.

„Genauer kennengelernt habe ich ihn 1964, als ich Professor in Münster in Westfalen wurde. Er war damals auch Professor in derselben katholischen Logenfakultät. Begegnet ist er mir allerdings schon ein Jahr vorher, bei einer Akademieveranstaltung der Diözesanakademie in Stuttgart. So ist es fast eine halbes Jahrhundert, das wir uns kennengelernt haben und uns zunächst als Theologen begegnet sind."

Erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Eindruck?

„Der erste Eindruck war derselbe, wie wir Joseph Ratzinger, jetzt Benedikt XVI. heute kennen. Ein sehr stiller gesammelter Mensch, der sehr bescheiden auftritt, hochbelesen und grundgescheit ist, aber in seinen Aussagen sehr bestimmt ist. Er spricht eine sehr schöne Sprache, verständlich und ansprechend. Und so ist er auch geblieben, bis heute."

Sie kennen ihn als Theologen, als Erzbischof von München und Freising, als Präfekten in Rom, als Sie selbst Bischof in Deutschland waren. Dann als Präfekten, als Sie hier in Rom gearbeitet haben, nun als Papst. Wie ist es, den Papst schon so lange und in so verschiedenen Rollen zu kennen?

„Gut, es war zunächst natürlich eine Schwierigkeit schon innerhalb des Konklaves, wenn jeder Kardinal zum Papst vorgeht, ihn begrüßt, man gibt ihm die Hand und verspricht den Gehorsam. Und da war es für mich die Schwierigkeit, wie soll ich ihn denn überhaupt anreden, denn wir waren per „Du" und man kennt sich schon sehr lange als Kollegen, dann als Bischöfe hier in Rom. Aber er hat es mir dann sehr leicht gemacht. Seine ersten Worte, die er zu mir gesagt hat, damals noch im Konklave, waren: Nun müssen wir den Weg der Einheit gemeinsam gehen!

Und als ich ihn dann später im Vatikan zu einem persönlichen Gespräch getroffen habe, sagte er „wir belassen es bei dem Du". Nun, man ist in diesem Moment sehr zurückhaltend, man darf beim Papst nicht indiskret sein. Ich versuche dies möglichst wenig zu gebrauchen, aber es ist immer ein sehr persönliches und herzliches Gespräch und eine angenehme Begegnung.

Wir schätzen uns gegenseitig, ich auf jeden Fall schätze ihn sehr als Theologen. Wenngleich ich hier und da gelegentlich andere theologische Akzente gesetzt habe. Aber das ist in der Theologie durchaus etwas Normales, da braucht es gelegentlich Disputationen. Das gehört sozusagen zum Geschäft der Theologie. Mit einem Papst führt man selbstverständlich keine öffentliche Disputation. Das tut man nicht, und es würde dem Amt auch schaden. Das Amt ist zu wichtig, um es zu beschädigen."

Sie haben es angesprochen: Diskussion unter Theologen ist normal, sogar wissenschaftlich gewünscht. Sie haben mit ihm gestritten. Die Frage etwa des Primates der Verschiedenheit und des Petrus, ich erinnere mich an meine eigenes Theologiestudium. Wie ist das, mit dem Theologen Joseph Ratzinger zu streiten? Was für eine Art akademische Auseinandersetzung führt man mit Joseph Ratzinger?

„Zunächst einmal, man führt eine sehr respektvolle Auseinandersetzung, denn an seiner theologischen Qualität besteht kein Zweifel, ich selber habe großen Respekt vor seiner theologischen Leistung. Zum anderen führt man eine Auseinandersetzung auf dem gemeinsamen Boden des katholischen Glaubens, wir sind beide katholisch, also auf einer gemeinsamen Grundlage. Hier ist eine Auseinandersetzung etwas Wünschenswertes. Und dann geht es schon zur Sache. Er spricht ja auch eine sehr deutliche Sprache, und das darf man dann auch wieder unter allem Respekt tun. Es war aber nie eine Feindseligkeit oder dergleichen zwischen uns. Als Papst ist es eine völlig andere Sache, zumal als Kardinal hier in Rom ist es einfach unsere Aufgabe, dem Papst zu helfen, ihn unter Umständen auch einmal aus Situationen herauszuhauen, das muss man auch tun. Er kann sich ja nicht immer in der gleichen Weise wehren, wie man das sonst tun kann, da muss man ihm helfen, ihn unterstützen und vielleicht einen echten Wadenbeißer für ihn machen."

Nun hat er ja auch als Papst selber zu Diskussionen eingeladen. Sein Jesus-Buch will er nicht als lehramtliches Dokument verstanden wissen. Haben Sie mit ihm schon einmal über dieses Buch gesprochen, oder wissen Sie von Diskussionen, die er selber über dieses Jesus-Buch beziehungsweise Jesus-Bücher geführt hat?

„Ich habe nie selber mit ihm über dieses Buch gesprochen. Es hat sehr viel Anerkennung gefunden. Es ist schließlich auch ein Buch, das auch für Nicht-Fachtheologen lesbar ist, was sehr wichtig ist. Es gibt natürlich unter den Fachtheologen hier und da unterschiedliche Meinungen, das ist das normalste der Welt. Im Großen und Ganzen werden die aber sehr sachlich und zurückhaltend geäußert. Man will einem Papst nicht zu nahe treten, aber auf der anderen Seite schätzt man, dass er sich überhaupt so auf die Exegese eingelassen hat.

Es ja auch nicht selbstverständlich, dass sich ein Papst auf die heutige, moderne Exegese einlässt, sie zitiert und sich damit auseinandersetzt und Position bezieht. Das Buch hat in sofern schon auch etwas bewirkt, als es eine hypertrophe, überzogene, kritische Einstellung zurückstutzt. Man kann ja auch die Kritik überziehen.

Gelegentlich braucht es auch eine Kritik an der Kritik. Das hat er ja auch getan. Vor allem hat er auch versucht, sich nicht so auf den historischen Jesus zu fixieren, sondern Jesus aus dem Ganzen des neuen Testaments heraus zu interpretieren. Das ist eine neue Form der Exegese, eine ganzheitliche, kanonische Exegese innerhalb des Kanons des neuen Testaments, wie sie vor allem in Amerika entwickelt worden ist. Und in sofern ist er hier auch schon auf der Höhe der Zeit."

Das wahrscheinlich prägendste Merkmal an Joseph Ratzinger, Benedikt XVI. ist das Theologe sein, das kommt immer wieder, auch ein Theologe der verständlich ist, vor allem mittwochs bei den Generalaudienzen immer wieder hervorkommt. Wie würden Sie sein Denken beschreiben?

„Es ist ein Denken, das von der Bibel und den Kirchenvätern herkommt. Es ist entscheidend für ihn, dass aus der ganz großen weiten Tradition heraus schöpft, sie aber auch zu aktualisieren versteht. Vor allem geht es ihm, das ist mein Eindruck, um eine spirituelle Vertiefung des Glaubens und das ist etwas, was mir viele Hörer der Audienz oder der Predigten, der Katechesen sagen, dass sie diese spirituellen Akzente und diese Tiefe und den Reichtum sehr schätzen. Also für ihr eigenes religiöses Leben sehr viel mitnehmen. Mir scheint das eines der Hauptanliegen seines Pontifikats zu sein. Die Vertiefung des Glaubens selber, denn nur aus einem vertieften Glauben können dann auch sinnvolle Reformen kommen und nicht der umgekehrte Weg ist möglich."

Hat sich das in den letzten 50, 55 Jahren als Theologe bei ihm geändert, oder war das immer schon da?

„Ich denke das war mehr oder weniger immer schon da. Er war schon immer ein spiritueller, frommer Mensch. Als Papst kommt natürlich das Pastorale, das Spirituale noch viel mehr zum Tragen, das Wissenschaftliche tritt in diesem Moment etwas zurück. Das liegt einfach an der neuen Aufgabe, wo er große Menschenmassen ansprechen muss. Da kann er nicht als Fachtheologe reden. Aber diese spirituelle Sprache, die auch eine Sprache des Herzens ist, die versteht er zu sprechen. Er hat auch eine sehr schöne Sprache, übrigens nicht nur wenn er deutsch spricht, auch das Italiensche ist er sehr reich und vor allem das Französische, das sagen auch Franzosen zu mir. Er könne viel besser französisch als manche Franzosen es können. Er ist sehr ausdrucksfähig und das spricht dann schon sehr an."

Er ist jetzt 85 Jahre alt, er hat jahrzehntelang Theologen geprägt. Was meinen Sie, was für theologische und geistige Elemente werden über die nächsten Jahrzehnte bleiben von Benedikt XVI.?

„Ich denke, dass die Elemente sehr lange überdauern, ausgehend vom Konzil, wo er einer der einflussreichen theologischen Berater war, über kirchlich geäußerte Fragen und dass er die Liebe zur Kirche, eine tiefe Einsicht in das Wesen der Kirche, nicht nur eine soziologische Sicht der Kirche, als Leib Christi, als Braut Christi, Tempel des Heiligen Geistes. All das hat die Theologie geprägt und das wird sicher auch weiter wirken. Er hat das dann sehr vertieft von Augustinus her, der ein besonders beliebter Kirchenvater ist, und bei Augustinus in den Psalmkommentaren etwa, kann man wunderbare Aussagen über die Kirche finden.

Zum Zweiten spielt bei ihm die Geschichtstheologie eine große Rolle. Mit der hat er sich vor allem im Zusammenhang mit Bonaventura befasst, einem ganz großen Vertreter der scholastischen Theologie. Aber auch schon bei Augustinus über den Gottesstaat, das ist ja auch eine Art Geschichtstheologie, das spielt ebenfalls eine Rolle. Und von dort her hat er auch Zugänge gefunden, etwas später, als er schon Kardinal war, zu politischen Problemen der Gegenwart, Religionsfreiheit, die Situation der Kirche in der modernen Gesellschaft. Das spielt jetzt natürlich notwendigerweise eine wichtige Rolle: Diese Warnung vor dem Relativismus der Postmoderne, wo es darauf ankommt, die Wahrheitsfrage in den Vordergrund zu stellen. Die Freiheit ist nur dann frei, wenn sie auf die Wahrheit bezogen ist. Wenn sie das nicht mehr ist, wird sie abhängig von Eigeninteressen, Stimmungen und Mehrheitsmeinungen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, die Wahrheitsfrage so in den Vordergrund zu stellen.

Da besteht sehr viel Tradition des Platon, des Augustinus, auch des hohen Mittelalters. Ich denke, das ist ein besonderer Akzent bei ihm. Das ist ein zeitkritischer Akzent, aber wie ich meine ein notwendiger, weil eine gewisse Gleichgültigkeit besteht über die Wahrheit beziehungsweise man die Wahrheitsfrage abzuwerten versucht: „was ist denn das, Wahrheit", wie Pilatus fragte. Davor kann man nur warnen. Das wäre dann auch das Ende der europäischen Kultur. Und dagegen ist er auch ein Wächter oder einer, der aus der reichen europäischen Tradition und Kultur kommt. Es geht ihm auch um die Zukunft Europas, um die es nicht ganz so gut bestellt ist, wenn man auf das kulturelle, geistige Leben schaut."

Herr Kardinal, ganz herzlichen Dank. Vielleicht abschließend, wenn Sie möchten, noch ein Geburtstagsgruß: was wünschen Sie dem Heiligen Vater für seine nächsten Lebensjahre Ad multos annos?

„Man wünscht ihm natürlich mit 85 Jahren die nötige physische Kraft, aber vor allem auch die nötige geistige Durchhaltekraft gegenüber manchen Anfechtungen, denen er ausgesetzt ist. Vor allem Freude an seiner Aufgabe! Freude an der Kirche und Hoffnung für die Kirche und für sein eigenes ewiges Leben." (rv)