Papstschreiben zur Heiligkeit – ein Kollegengespräch

An diesem Montag hat der Vatikan ein Lehrschreiben des Papstes über die Heiligkeit veröffentlicht. Wir sprachen darüber mit unserem Redaktionsmitglied Stefan von Kempis, der letztes Jahr bei Herder ein Buch über „Drei Päpste und ihre Lieblingsheiligen“ herausgegeben hat.

Warum gerade jetzt so ein grundlegender Text des Papstes über die Heiligkeit?

„Es stimmt schon – die Sache ist etwas überraschend. Denn die bisherigen Grundlagentexte von Franziskus (sogenannte „Apostolische Exhortationen“) handelten von sehr wichtigen Themen: Evangelii Gaudium von 2013 war die Programmschrift seines Pontifikats, da ging es um Neuevangelisierung, und Amoris Laetitia von 2016 drehte sich um Ehe und Familie. Vor allem aber waren beiden „Exhortationen“ – das Wort bedeutet „Aufruf“, „Ermunterung“ – große Bischofssynoden im Vatikan vorausgegangen, Amoris Laetitia war sogar der Endpunkt eines synodalen Prozesses aus zwei Synoden.

Also, eine Exhortation über Heiligkeit, ohne dass ihr eine Synode vorausging, bedeutet eine Überraschung. Ich hätte mir von der Form her eher eine Enzyklika zu diesem Thema vorstellen können, aber vielleicht war der Text dafür nicht lang genug…“

Aber das sind ja vor allem formale Gesichtspunkte. Was steckt inhaltlich noch dahinter?

„Also, von diesen formalen Gesichtspunkten abgesehen ist klar, dass Franziskus einfach das Wort Heiligkeit (neben dem Wort Barmherzigkeit, das bisher in den ersten fünf Jahren dieses Pontifikats prägend war, siehe das Heilige Jahr der Barmherzigkeit 2015-16) jetzt zu einem weiteren großen Thema seines Dienstes machen will.

Dieser Papst ist ausdrücklich als Reformer angetreten, und da ist es schon auffallend, dass er beim Thema Reformen immer wieder darauf zu sprechen kommt, dass er eigentlich nicht so sehr Strukturen als vielmehr die Herzen ändern will. Darum zählt Franziskus seine Frühmessen in der Casa Santa Marta oder die Fastenexerzitien mit der Römischen Kurie ausdrücklich zu seinem Reformprozess dazu.

„Heiligkeit“ ist also, auch wenn sich das erst einmal seltsam anhört, aus der Sicht dieses Papstes eines der wichtigsten, wenn nicht überhaupt das wichtigste Ziel seiner Vatikan- und Kirchenreform.“

Aber bei Heiligen denkt man doch zuerst an die Menschen, die von Päpsten heilig- oder selig gesprochen worden sind.

„Ja natürlich – vor allem Johannes Paul II., der mittlerweile selbst als Heiliger verehrt werden kann, hat eine richtiggehende Politik der Heilig- und Seligsprechungen betrieben. Er hat in einem Vierteljahrhundert Pontifikat auf seinen etwa hundert Auslandsreisen häufig große Persönlichkeiten einer jeweiligen Ortskirche im Land selbst „kanonisiert“, also in die offizielle Liste der Heiligen aufgenommen. Er hat also ein ganzes Netz von Heiligen hinterlassen, das sich über den Globus spannt: ganze Heerscharen von Heiligen. Und Benedikt XVI. hat das, mit etwas anderer Akzentsetzung, fortgesetzt – wie es ja auch Franziskus tut.

Aber mit „Gaudete et Exsultate“ geht es Franziskus gar nicht so sehr um diese Heiligsprechungen, diese pompösen Feiern, wie wir sie vom Petersplatz her kennen. Stattdessen will er auf eine – wie er sie nennt – „Mittelklasse der Heiligkeit“ hinweisen. Also auf ein im Alltag gelebtes Heiligsein ganz normaler Menschen, auf die keiner in Rom aufmerksam wird und die doch eine Leuchtspur des Heiligen in ihrer Umgebung hinterlassen.

Zu diesen unbekannten und nicht-kanonisierten Heiligen zählt Franziskus übrigens auch seine Großmutter. Das ist ein originelles Konzept, eine Demokratisierung des Heiligenbegriffs sozusagen.“

Bergoglios Großmutter? Eine Heilige?

„Ja – der Papst sieht das tatsächlich so. „In meinem Brevier habe ich das Testament meiner Großmutter Rosa“, hat er mal erzählt. „Ich lese es oft: Es ist für mich wie ein Gebet. Sie ist eine Heilige, die so viel gelitten hat…“

Franziskus ist davon überzeugt, dass nahezu jeder Mensch Heilige in seiner Umgebung hat, und mit seinem Schreiben will er den Menschen den Blick dafür schärfen. Heiligkeit eben nicht als etwas Exklusives, nur einigen wenigen Vorbehaltenes, sondern als etwas, wozu wir alle Zugang haben.

„Ich sehe die Heiligkeit im geduldigen Volk Gottes“, sagte er 2013 im Interview mit Jesuitenzeitschriften – und nannte dann gleich ein paar alltagstaugliche Beispiele. „Eine Frau, die ihre Kinder großzieht, ein Mann, der arbeitet, um Brot nach Hause zu bringen, die Kranken, die alten Priester, die so viele Verletzungen haben, aber auch ein Lächeln, weil sie dem Herrn gedient haben, die Schwestern, die so viel arbeiten und eine verborgene Heiligkeit leben. Das ist für mich die allgemeine Heiligkeit.“

Übrigens: Die Freude gehört ganz sicher auch zentral dazu, zu dieser Vorstellung von Heiligkeit. Und zu diesem Pontifikat überhaupt. Alle großen Schreiben des Papstes, auch das neueste, tragen die Freude im Titel: Gaudium, Laetitia, Laudato si‘, Gaudete!“

Lesetipp: Stefan von Kempis (Hg.), Drei Päpste und ihre Lieblingsheiligen. Persönliche Gedanken von Johannes Paul II., Benedikt XVI. und Franziskus. Herder Verlag Freiburg, 2017. (vatican news)