Kardinal Parolin: „Neue Völkermorde verhindern“

Kardinal Pietro ParolinZu Beginn der Nahost-Beratungen im Vatikan hielt Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin ein Referat. Dabei berichtete er über die Gespräche, die Päpstliche Nuntien aus der Region Anfang Oktober auf Geheiß des Papstes im Vatikan mit der Kurienspitze geführt hatten. Die derzeitige Lage von Christen und nicht-sunnitischen Minderheiten im Herrschaftsbereich des „Islamischen Staats“ sei „inakzeptabel“, urteilte Kardinal Parolin. Die Terrorgruppe trete elementarste Menschenrechte mit den Füßen.

„Massenhinrichtungen, Enthauptungen von Andersdenkenden, Verkauf von Frauen auf dem Markt, Kindersoldaten, Zerstörung von Kultorten – das alles hat Hunderttausende zur Flucht gezwungen. Wir verurteilen klar diese Verletzungen nicht nur des humanitären Völkerrechts, sondern der grundlegendsten Rechte überhaupt, und fordern ein Recht der Flüchtlinge auf Rückkehr und auf ein Leben in Würde und Sicherheit im eigenen Land und in der eigenen Nachbarschaft. Das ist ein Recht, das von der internationalen Gemeinschaft wie von den Staaten garantiert werden muss!“

Die Konflikte im Nahen Osten stellen sich nach der Analyse von Kardinal Parolin „immer deutlicher als eine der ernsthaftesten Bedrohungen internationaler Stabilität“ heraus. Friede lasse sich im Nahen Osten allerdings nicht „unilateral“ herstellen, sondern nur mit einer „umfassenden regionalen Lösung“. Für eine „Stabilisierung der ganzen Region“ wäre eigentlich ein Ende des israelisch-palästinensischen Konflikts „dringend nötig“; entsprechende „diplomatische Bemühungen“ müssten jetzt forciert werden. Und auch der Iran sollte an einer Lösung für die Probleme im Nahen Osten beteiligt werden, so der Kardinalstaatssekretär. Mit den US-Luftschlägen auf Stellungen des „Islamischen Staats“ zeigte er sich nicht ganz zufrieden – und zwar, weil US-Präsident Barack Obama sich nicht um ein Mandat der Vereinten Nationen bemüht hat.

„Es ist legitim, den ungerechten Aggressor zu stoppen – aber immer unter Einhaltung des Völkerrechts, wie auch der Heilige Vater betont hat! Es hat sich ja auch klar gezeigt, dass man die Lösung des Problems nicht nur von der militärischen Antwort erwarten kann. Tiefer würde ein Lösungsweg gehen, der von den Ursachen ausgeht, die von der fundamentalistischen Ideologie ausgenutzt werden. Was den sogenannten „Islamischen Staat“ betrifft, sollte man endlich alle Quellen austrocknen, mit denen er seine Terroraktivitäten speist, etwa den illegalen Erdölexport und die Lieferung von Waffen und Technologie.“

Zum Exodus von Christen aus dem Nahen Osten meinte Parolin vorsichtig, das sei „ein komplexes Problem“. Wer – wie die meisten Kirchenführer der Region – wirklich einen Verbleib der Christen in der Region wolle, der müsse allerdings auch dafür sorgen, dass sie dort „adäquate Lebens-, Sicherheits- und Arbeitsbedingungen sowie Zukunftsperspektiven vorfinden“.

„Was kann die Kirche angesichts dieser Herausforderungen tun? Sie kann jedenfalls nicht schweigen angesichts der Verfolgungen ihrer Kinder und so vieler Unschuldiger. Es ist immer dringender, das herzzerreißende humanitäre Drama im Nahen Osten anzugehen; in Syrien zum Beispiel braucht mittlerweile die Hälfte der Bevölkerung humanitäre Hilfe, um erst gar nicht vom Drama der Flüchtlinge zu sprechen, die man nach Millionen zählt. Die Christen in der Region sollten nicht der Versuchung nachgeben, sich von politischen oder militärischen Kräften beschützen zu lassen, sondern sollten einen Beitrag zu ihren Gesellschaften leisten, damit diese sich zur Moderne, zur Demokratie, zum Rechtsstaat und zum Pluralismus hin entwickeln. Im konkreten Fall des sogenannten „Islamischen Staats“ haben muslimische Führer eine besondere Verantwortung – nicht nur, sich von diesem zu distanzieren, sondern auch allgemeiner das Töten von Menschen aus religiösen Gründen und jede Art von Diskriminierung klar zu verurteilen.“

Die internationale Staatengemeinschaft sollte nach Ansicht von Kardinal Parolin „aus Fehlern der Vergangenheit lernen“ und jetzt in der Krise nicht (nur) auf Krieg setzen. Die UNO habe die Pflicht, „neue Völkermorde zu verhindern“. (rv)