Kruzifixurteil: „Ein guter Tag für die Religionsfreiheit“

Das Anbringen von Kruzifixen in Klassenzimmern italienischer Schulen verstößt nicht gegen die Religionsfreiheit. Das hat der Europäische Menschenrechtsgerichtshof an diesem Freitag entschieden. Direkt nach der Urteilsverkündung am Freitagnachmittag hat Radio Vatikan mit dem Freiburger Staatskirchenrechtler Prof. Dr. Stefan Mückl gesprochen, er ist derzeit Gastdozent an der Päpstlichen Universität „Santa Croce" in Rom. Er bewertet die Entscheidung so:
„Es ist ein guter Tag für die Religionsfreiheit und die Menschenrechte insgesamt im Raum des europäischen Rechts!"
Im ersten Urteil vom November 2009 hatte der Europäische Menschenrechtsgerichtshof die Kruzifixe an italienischen Schulen als Verstoß gegen das Erziehungsrecht gewertet. Es könne auf Schüler anderer Religionen „emotional verstörend" wirken, hieß es damals zur Urteilsbegründung. Der Staat Italien legte im Juni 2010 Berufung gegen das Urteil ein. Ist die heutige Entscheidung des Gerichtshofes Schadensbegrenzung?
„Es ist die Korrektur einer gänzlich einseitigen und falschen Entscheidung, die damals eine Kammer – besetzt mit sieben Richtern – getroffen hat, die nicht repräsentativ für die Mitgliedsstaaten des Europarates gewesen ist. Aufgrund der zahlreichen Interventionen – sei es aus der Bevölkerung, sei es aus der Politik, sei es aus anderen Mitgliedsstaaten des Europarates hat nun eine juristisch fundierte Auseinandersetzung mit der Materie stattgefunden, und sie hat zu einem zutreffenden und allein richtigen Ergebnis geführt."
Der Entscheidungsprozess hat ungewöhnlich lange gedauert. Warum?
„Diese lange Entscheidungsphase ist sicher zunächst ein Indiz dafür, dass sich der Gerichtshof Zeit nehmen wollte, sich in Ruhe und mit Gründlichkeit den Rechtsfragen zu widmen. Es war auffällig, wie sehr die erste Entscheidung an evidenten handwerklichen Mängeln gelitten hat, unter Ausblendung der bisherigen Rechtsprechungslinie des Gerichtes. Und der Gerichtshof hat nun die Gelegenheit wahrgenommen, all diese Fehler zu vermeiden. Ein zweiter Aspekt ist meiner Meinung nach, dass zehn Mitgliedsstaaten auf Seiten Italiens dem Verfahren beigetreten sind. Das waren völlig unterschiedliche Staaten mit eigenen historischen Traditionen, auch von der Gewichtung ihrer eigenen religionssoziologischen Verhältnisse: etwa Russland, Armenien, Griechenland und Zypern. Aber auch Staaten wie Malta und Monaco und San Marino."
Was zeigt das Urteil hinsichtlich des Verhältnisses von Staat und Kirche in Europa? Und für die europäische Gesetzgebung in Punkto Religion?
„Der Gerichtshof hat die Gelegenheit genutzt, eine umfassende Bestandsaufnahme des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche und Staat und Religion vorzunehmen. Und es ist mit dieser Entscheidung wieder klar gestellt, dass es keine europäische Supra-Gesetzgebung geben kann auf diesem Terrain! Sondern dass zunächst jeder Staat seine eigenen historischen und kulturellen Wurzeln berücksichtigen kann, und der Gerichtshof nur eine Endkontrolle vornimmt, ob der Mindeststandard von Menschenrechtsschutz nicht mehr gewährleistet ist."
Damals – im ersten Urteil von 2009 gegen die Kreuze in italienischen staatlichen Schulen – hatte der Europäische Gerichtshof das Kreuz als „genuin religiöses und apellatives Symbol" gewertet. Dieses sei für die Kinder unausweichlich und könne „emotional verstörend" wirken. Ist man von dieser Definition jetzt abgekommen?
„Mit Sicherheit, denn schon in dieser ersten Entscheidung lag die zentrale Engführung, nämlich dass man das Kreuz einseitig in einem bestimmten Sinne verstanden hat, und dies im Namen der Neutralität. Das war eine gewissenmaßen paradoxe Situation, dass ein Organ eines supranationalen Menschenrechtsverbandes sagt: Wir interpretieren das Kreuz in einem bestimmten einseitigen Sinne, negieren alle übrigen Sinnsymbole und Sinndeutungen und geben dies dann aus als Gebot der Neutralität. Und verbieten dem Mitgliedsstaat, ein plurivalentes Symbol in seiner Erziehung auch präsent und sichtbar zu machen."
Ein Manko war ja beim letzten Urteil gewesen, dass der Einschätzungsspielraum der nationalen Regierung Italien komplett übergangen wurde. Wurde der mit dem jetzigen Urteil wieder hergestellt? Welches Zeichen soll damit gesetzt werden?
„In der Tat war es eine weitere zentrale Engführung der ersten Entscheidung der Kammer, dass versucht worden ist, in einem sehr heterogenen Rechtsraum von 45 Mitgliedsstaaten eine spezielle Sicht abzusetzen. Der Gerichtshof hat nun wieder – in Fortführung seiner bewährten Rechtssprechung – anerkannt, dass in den verschiedenen Staaten ein ganz unterschiedliches Zuordnungsverhältnis zwischen Staat und Kirche beziehungsweise Staat und Religion besteht."
Prof. Mückl, herzlichen Dank für das Gespräch. (rv)

Pressemitteilung der  >>Deutschen Bischofskonferenz zum Urteil (vh)