EU/Italien: Kruzifixstreit, macht Straßburg heute Mängel wieder gut?

  Verstoßen Kruzifixe in staatlichen italienischen Schulen gegen Grundrechte? Über diese Frage entscheidet an diesem Freitag der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in letzter Instanz. Hintergrund ist die Klage einer Mutter gegen die Anbringung christlicher Symbole in staatlichen Schulen. Die in Italien lebende Finnin hatte angegeben, diese verletzten die Rechte von Schülern, die selbst keiner christlichen Religion angehörten. Im November 2009 wertete der Europäische Menschenrechtsgerichtshof Kruzifixe an italienischen Schulen als Verstoß gegen das Erziehungsrecht der Eltern. Auch wenn das Kruzifix für einige Schüler motivierend sei, könnte es auf Schüler anderer Religionen „emotional verstörend" wirken, hieß es damals zur Urteilsbegründung. Der Staat Italien legte im Juni 2010 Berufung gegen das Urteil ein. An diesem Freitag wird nun das endgültige Urteil erwartet. Nach der ersten Entscheidung des Gerichtshofes gegen Kruzifixe in italienischen Schulen sprach Radio Vatikan mit dem Freiburger Staatsrechtler Stefan Mückl, der als Dozent an der Päpstlichen Universität „Santa Croce" lehrt und sich das umstrittene Kruzifix-Urteil des Straßburger Gerichtes einmal näher angesehen hat. Er wies den Straßburger Richtern damals Fehlschlüsse und schwere handwerkliche Mängel nach. Lesen Sie hier eine Zusammenfassung der Einschätzung der Staatsrechtlers vom Juni 2010.
Grundsätzlich bemängelt Mückl, dass der Streit um das Schulkreuz viel zu wenig als öffentliche Debatte geführt wurde und wird. Und was die rechtliche Seite betrifft: Der supranationale Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe sich bei seiner ersten Entscheidung auf das Kruzifixurteil des deutschen Bundesverfassungsgerichtes (1995) gestützt, ohne jedoch Fehler und die Besonderheiten des deutschen Urteils zu berücksichtigen: „Alle Schwachpunkte der Kruzifix-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes finden sich nun wieder in der Entscheidung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes".
Im italienischen Fall hatte der Menschrechtsgerichtshof das Kreuz als Eingriff in Grundrechte gewertet: Die Schule dürfe keine „Schaubühne missionarischer Aktivitäten" sein, hieß es dort, staatliche Neutralität und Pluralismus müssten dort garantiert sein. Das Kruzifix sei ein „genuin religiöses und appellatives Symbol", in der Schule sei es für die Kinder unausweichlich und könne als „emotional verstörend" empfunden werden.
Natürlich habe das Kruzifix eine spezifisch religiöse Bedeutung im kirchlichen Kontext, so Mückl dazu. Wie jedes Symbol bedürfe aber auch das Kreuz der Auflösung. Und die fiele eben je nach Kontext anders aus: „Der Symbolbetrachter wird ja nicht zu einer Äußerung der Billigung oder Affirmation oder Anbetung gehalten, es wird noch nicht einmal eine wie auch immer geartete Stellungnahme abverlangt." Das Symbol ist an sich also noch lange kein Aufruf zur Bekehrung, stellt der Jurist klar.
Größtes Manko des Urteils ist nach Mückl: Das Straßburger Gericht habe den jeweiligen Einschätzungsspielraum der nationalen Regierung, in diesem Fall Italien, komplett übergangen: „Diesen Beurteilungsspielraum hat der Gerichtshof in der Vergangenheit stets respektiert und es nicht unternommen, seine eigene Einschätzung an deren Stelle zu setzen. Von diesem Grundsatz findet sich in der neuen Entscheidung aber rein gar nichts."
Mit dem Kruzifixurteil habe Straßburg wohl europaweit Exempel statuieren wollen, vermutet der Staatsrechtler. Damit würde das Gericht den eigenen Grundsätzen untreu: „Was die Kammer hier nun macht, ist, dass sie letzten Endes die Rolle eines gesamteuropäischen Gesetzgebers einnehmen möchte, indem sie die ihr richtig erscheinende Konzeption des Verhältnisses von Staat und Kirche in die Form eines einzelfallbezogenen Judikates gießt." Den wirklichen Schaden aus dieser Entscheidung trüge letztlich nicht Italien, auch nicht das Kruzifix, sondern der Gerichtshof selber, und mit ihm die europäische Idee. Mückl: „Es ist hier einer einzigen Kammer gelungen, in einer einzigen Entscheidung die Autorität des gesamten Gerichtshofes aufs Spiel zu setzen, und zwar eine Autorität, die dieser Gerichtshof bitter braucht, wenn es darum geht, in anderen Fällen, wo in des Wortes wirklicher Bedeutung Menschenrechte auf dem Spiel stehen, diese auch tatsächlich zu schützen." (rv)