Kardinal Levada: „Höheren Maßstab an uns selbst anlegen“

Der Präfekt der vatikanischen Glaubenskongregation verteidigt den Umgang der Kirche mit Missbrauchsfällen. In einem Interview mit dem US-Fernsehen meinte Kardinal William Joseph Levada, es würde ihn nicht überraschen, wenn noch mehr Bischöfe weltweit wegen dieses Themas um ihren Rücktritt bäten. Bei der Auswahl von Bischöfen gebe es jetzt angesichts der Krise zwar „keinen neuen Standard, aber der bisherige wird vielleicht noch rigoroser angewandt als in der Vergangenheit."
„Es ist eine große Krise: Niemand sollte versuchen, sie herunterzureden. Sie ist meiner Ansicht nach besonders schwer, weil Priester eigentlich gute Hirten sein sollten – und sie werden zum genauen Gegenteil, wenn sie Kinder missbrauchen und ihre Unschuld verletzen. Der Ausbruch dieser Krise hat die meisten von uns wohl überrascht; ein Bischof sagte mir: Das ist eigentlich nicht der Verein, dem ich beigetreten bin… Doch der Papst scheint mir der richtige Mann, um die Kirche in diesem Moment zu führen."
Der Amerikaner Levada kann sich noch gut an die Missbrauchsskandale in der US-Kirche zu Beginn des Jahrhunderts erinnern. Trotzdem ist die jetzige Krise für ihn kein déja-vu.
„Bei der derzeitigen medialen Spannung spielen zwei Elemente eine Rolle: Zum einen die Lage in Irland, wo der Bericht über das Erzbistum Dublin über Irland hinaus viel Entsetzen ausgelöst hat. Und zweitens will ich doch offen sagen: Es gibt zwar keine Verschwörung der Medien oder etwas in der Art, aber ich denke doch, dass die US-Medien sich zu sehr auf den Versuch eingelassen haben, den Papst irgendwie in die Sache hineinzuziehen, sogar in Gerichtsprozesse… Das ist zwar zum Scheitern verurteilt, aber es hat doch einen Teil der Medienberichterstattung bestimmt… Die Medien wollen natürlich eine gute Story – aber ich glaube, nach vernünftigen Maßstäben haben sie nicht unbedingt ein ausgeglichenes Bild gezeichnet, ein Bild mit Kontext."
Der Kardinal, der nur sehr selten Interviews gibt, nennt auch ein Beispiel, was für ihn zu einem „Bild mit Kontext" gehört:
„Ich habe in den Berichten nicht viel davon wiedergefunden, was die US-Kirche getan hat. Die Bischöfe haben 2002 – durchaus unter Druck der Medien, das ist richtig – sehr konkret gehandelt. Wenn Sie die Erziehungsprogramme für Eltern, für Kinder sehen, die ausgearbeitet wurden – auch für alle Kirchenmitarbeiter, für Priester und Lehrer –, das ist eine wirkliche Erfolgsstory! Das kann ein Modell sein für öffentliche Schulen oder Pfadfinder, auch wenn die in Sachen Missbrauch bei weitem nicht so unter Medienbeobachtung stehen wie die Kirche – das ist sicher ein Aspekt."
Dass die Medien die Kirche so genau beobachten, kann Levada aber irgendwie auch verstehen.
„Wir sollten einen höheren Maßstab an uns selbst anlegen. Ich glaube, die Gründe für die Missbrauchsfälle gehen zurück auf Änderungen in der Gesellschaft, auf die die Kirche und Priester nicht vorbereitet waren. Etwa: Wie kann man in Zeiten der sexuellen Revolution zölibatär leben? Das ist einer der Gründe, würde ich sagen."
Frage an Kardinal Levada: Hat die Kirche in der Vergangenheit Missbrauchsfälle vertuscht?
„Ich glaube, da darf man einen Aspekt nicht vergessen, der die Kirche betrifft, aber auch die ganze Gesellschaft: dass das nämlich ein Lernprozess war. Und dieser Prozess ist auch noch nicht zu Ende! Ich wurde 1993 zum Bischof ernannt; in dieser Zeit hatte ich noch nie auch nur von einem Fall gehört, in dem ein Priester ein Kind missbraucht hätte. Dabei fand das hinter verschlossenen Türen längst statt, wie wir heute wissen – keiner meldete das. Wir haben viel Zeit gebraucht, zu verstehen, wie man damit umzugehen hat. Und Zeit, zu verstehen, wieviel Schaden durch diese Taten den Opfern, den Kindern, angetan wird… Wenn man zum ersten Mal von so einem Fall hört, dann denkt man: Das ist ein Einzelfall, dann realisiert man nicht, dass da alle sechs Monate neue Fälle gemeldet werden. Das mussten wir erst lernen, und auch, wie man damit effektiver umgeht."
Zu den Angriffen auf Papst Benedikt für den Umgang mit Missbrauchsfällen hat sich Levada vor einem Monat schon ausführlich geäußert – schließlich war der jetzige Papst an der Spitze der Glaubenskongregation sein Vorgänger.
„Diese Kritik war im wesentlichen unfair; die Fälle lagen alle Jahrzehnte zurück, es ging nicht um aktuelle Fälle… ich glaube nicht, dass der Papst in diesen Fällen zu Recht kritisiert werden kann."
Italienische Medien spekulieren in den letzten Tagen über ein öffentliches Mea Culpa des Papstes – etwa zum Abschluss des Priesterjahres im Juni. Levada dazu:
„Ich bin kein guter Prophet – er ist der Papst, ich leite diese Behörde. Ich sage ihm, was ich mache, aber er sagt mir nicht, was er plant. Wir müssen abwarten, was er tun wird… aber ich wäre nicht überrascht." (rv)