Predigt zum Jahresschluss: Freiheit oder Sklaverei?

Papst FranziskusPredigt von Papst Franziskus bei der ersten Vesper zum Fest der Gottesmutter Maria, am 31. Dezember im Petersdom.

Liebe Schwestern und Brüder,

das Wort Gottes führt uns heute in ganz besonderer Weise in die Bedeutung von ‚Zeit’ ein, in das Verstehen dessen, dass Zeit nichts von Gott verschiedenes ist, ganz einfach deswegen, weil er sich in der Geschichte hat offenbarenwollen und uns gerettet hat. Die Bedeutung von Zeit, von Zeitlichkeit, ist die Stimmung der Erscheinung des Herrn, also der Offenbarung Gottes, des Mysteriums Gottes, in ganz konkreter Liebe. Die Zeit ist der Bote Gottes, wie es der heilige Pierre Favre ausgedrückt hat.

Die heutige Liturgie erinnert uns an den Satz des Apostels Johannes: „Meine Kinder, es ist die letzte Stunde“ (1 Joh 2:18), es ist dasselbe, was der heilige Paulus in dem Ausdruck „Fülle der Zeit“ (Gal 4:4) ausdrückt. Der Tag heute zeigt uns, wie die Zeit sozusagen von Christus, dem Sohn Gottes und Mariens, berührt wurde und durch ihn neue und überraschende Bedeutung gewann: Sie wurde zur „Zeit des Heils“, zur Zeit der Erlösung und der Gnade.

All das führt uns, über das Ende des Lebensweges, unseres Weges, nachzudenken. Es gab für uns einen Beginn und es wird auch ein Ende geben, „eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben“ (Koh 3:2). Mit dieser Wahrheit, einfach und fundamental und doch auch verdeckt und vergessen, lehrt uns Mutter Kirche, das Jahr und auch jeden unserer Tage mit einer Gewissenserforschung zu beenden, durch die wir entdecken können, was wirklich geschehen ist; wir danken dem Herrn für all das empfangene Gute und das, was uns gelungen ist, und gleichzeitig bedenken wir unsere Sünden und Fehler. Danken und um Vergebung bitten!

Und genau das machen wir auch heute zum Ende dieses Jahres. Wir loben den Herrn mit dem Hymnus des Te Deum und gleichzeitig bitten wir um Vergebung. Die Haltung des Dankens führt uns in die Demut, zum Erkennen und Annehmen der Gaben des Herrn.

Der Apostel Paulus fasst in seinem Brief, aus dem die Lesung dieser ersten Vesper genommen ist, das grundlegende Motiv unseres Dankes an Gott zusammen: Er hat uns zu seinen Kindern gemacht, er hat uns als Kinder angenommen. Dieses unverdiente Geschenk füllt uns mit Dankbarkeit und Staunen! Man könnte sagen: „Aber sind nicht schon alle Gottes Kinder, dadurch dass wir Menschen sind?“ Sicherlich, Gott ist Vater aller Menschen auf Erden. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass unsere kindliche Beziehung zutiefst verwundet ist; wir sind durch die Erbsünde von ihm entfernt, die uns von unserem Vater getrennt hat. Deswegen hat Gott seinen Sohn gesandt, uns freizukaufen um den Preis seines Blutes. Und es ist ein Freikaufen, denn es ist eine Sklaverei. Wir waren Kinder, aber wir wurden zu Sklaven, auf die Stimme des Bösen hörend. Niemand sonst kauft uns aus dieser Sklaverei frei außer Jesus, der unser Fleisch annahm in der Jungfrau Marie und am Kreuz starb, uns aus der Sklaverei der Sünde zu befreien und die verlorene Kindschaft wiederherzustellen.

Die heutige Liturgie erinnert auch daran, dass am Anfang, vor aller Zeit, das Wort war, und dass das Wort Mensch geworden ist. Deswegen sagt der heilige Ireneus: „Das ist der Grund, weswegen das Wort Mensch wurde und der Sohn Gottes Menschensohn wurde: Weil der Mensch, in die Gemeinschaft mit dem Wort eintretend und so göttliche Kindschaft erlangend, Kind Gottes werde“ (Adversus haereses 3.19.1).

Gleichzeitig ist das Geschenk, für das wir danken, uns Grund zur Gewissenserforschung, einer Revision des eigenen und des gemeinschaftlichen Lebens, Grund uns zu fragen, wie wir eigentlich leben. Leben wir als Kinder oder als Sklaven? Leben wir als in Christus getaufter Mensch, gesalbt durch den Heiligen Geist, losgekauft, frei? Oder leben wir nach einer weltlichen Logik, korrupt, das tuend was der Teufel uns glauben macht dass es nach unserem Interesse sei? Auf unserem Lebensweg gibt es immer die Tendenz, der Befreiung widerstehen zu wollen. Wir haben Angst vor der Freiheit und paradoxerweise ziehen wir unbewusst, mehr oder weniger, die Sklaverei vor. Die Freiheit erschreckt uns, denn sie erwartet von unserer Zeit und unserer Verantwortlichkeit, dass wir sie gut nutzen. Die Sklaverei dagegen reduziert die Zeit auf den Moment und so fühlen wir uns sicher, sie lässt uns auf diese Weise eine Abfolge von Augeblicken leben, unverbunden mit ihrer Vergangenheit und unserer Zukunft. In anderen Worten verhindert die Sklaverei, dass wir voll und ganz die Gegenwart leben, denn sie nimmt ihr die Vergangenheit und schließt von der Zukunft ab, von der Ewigkeit. Die Sklaverei lässt uns glauben, dass wir nicht träumen können, nicht fliegen, nicht hoffen.

Ein großer italienischer Künstler hat vor einigen Tagen gesagt, dass es für den Herrn einfacher gewesen ist, Israel aus Ägypten herauszunehmen, als Ägypten aus den Herzen der Israeliten. Sie waren materiell aus der Sklaverei befreit, aber während ihres Durchzuges durch die Wüste mit den Schwierigkeiten und dem Hunger begannen sie, sich nach Ägypten zurück zu sehnen, als sie„Zwiebeln und Knoblauch“ aßen (Num 11:5). Sie vergaßen aber, dass sie am Tisch der Sklaverei gegessen hatten. In unseren Herzen verbirgt sich die Sehnsucht nach der Sklaverei, denn sie ist offensichtlich beruhigender, hat mehr Freiheiten und ist weniger riskant. Uns gefällt es, von so vielen Feuerwerken gefangen zu sein, die schön aussehen, aber in Wirklichkeit nur wenige Augenblicke dauern! Das ist die Herrschaft des Moments!

Von dieser Gewissenserforschung hängt für uns Christen die Qualität unseres Handelns, unseres Lebens, unserer Präsenz in der Gesellschaft, unseres Dienstes für das Gemeinwohl und unsere Mitarbeit an öffentlichen und auch kirchlichen Institutionen ab.

Deswegen und auch weil ich Bischof von Rom bin, möchte ich den Blick auf unser Leben hier in Rom lenken, das ein großes Geschenk ist, denn es bedeutet ja, in der ewigen Stadt zu leben. Für einen Christen bedeutet es auch, Teil der Kirche zu sein, die auf dem Zeugnis des Martyriums der heiligen Apostel Petrus und Paulus gegründet ist. Und auch dafür danken wir dem Herrn. Gleichzeitig ist das aber auch eine große Verantwortung. Jesus hat gesagt, dass von jedem dem viel gegeben ist, viel erwartet wird (Lk 12:48). Fragen wir uns also: Sind wir in dieser Stadt, in dieser kirchlichen Gemeinschaft, frei oder sind wir Sklaven? Sind wir Licht und Salz? Sind wir Sauerteig? Oder sind wir erloschen, fade, übel gesinnt, misstrauisch, unbedeutend und müde?

Unbestreitbar verlangen die schlimmen Korruptionsfälle, die in der jüngsten Vergangenheit ans Tageslicht kamen, eine Bekehrung des Herzens für eine geistliche und moralische Wiedergeburt, wie auch für einen erneuerten Einsatz, um eine gerechtere und solidarischere Stadt zu errichten, wo die Armen, die Schwachen und die an den Rand gedrängten das Zentrum unserer Sorge und unseres täglichen Handelns sind. Es braucht eine große und tägliche Anstrengung christlicher Freiheit, den Mut zu haben, in unserer Stadt zu verkünden, dass wir die Armen schützen und nicht uns vor den Armen schützen müssen und dass wir den Schwachen dienen und uns nicht von den Schwachen bedienen lassen müssen!

Die Lehre eines einfachen römischen Diakons kann uns hierbei helfen. Als man den heiligen Lorenzo bat, die Schätze der Kirche zu zeigen, brachte er einfach einige Arme. Wenn man sich in einer Stadt die Armen und Schwachen sorgt, wenn ihnen geholfen wird, dann werden sie zum Schatz der Kirche und zum Schatz in der Gesellschaft. Wenn aber eine Gesellschaft die Armen ignoriert, die verfolgt, kriminalisiert, sie in eine „Mafia“ hinein drängt, dann verarmt sie bis ins Elend hinein, verliert die Freiheit und bevorzugt die „Zwiebeln und den Knoblauch“ der Sklaverei, der Sklaverei des eigenen Egoismus, der Sklaverei der eigenen Kleinmütigkeit. Diese Gesellschaft hört auf, christlich zu sein.

Liebe Brüder und Schwestern, beenden wir das Jahr und bekennen wir, dass es eine „letzte Stunde“ gibt, eine „Fülle der Zeit“. Zum Abschluss dieses Jahres, im Dank und in der Vergebungsbitte, tut es gut, um die Gnade zu bitten, seinen Weg in Freiheit gehen zu gehen, um so die vielen Schäden reparieren zu können und uns vor der Sehnsucht nach der Sklaverei zu hüten, uns nicht nach der Sklaverei zu sehnen.

Die heilige Jungfrau, die heilge Mutter Jesu, stand wirklich im Herzen der Zeit Gottes, als das Wort, das von Anfang an war, einer von uns wurde, in der Zeit. Sie die der Welt den Erlöser geschenkt hat helfe uns, ihn mit offenem Herzen aufzunehmen, um wirklich als freie Kinder Gottes leben zu können. (rv)