Gerhard Ludwig Müller: Ein Kardinal mit Erfahrungen vom „Ende der Welt“

Kardinal MüllerDie Erfahrungen Lateinamerikas werden die Kirche der Zukunft prägen. Davon ist Bischof Norbert Strotmann überzeugt. Der Herz-Jesu Missionar ist in Peru Bischof von Chosica und war zur Kardinalserhebung und zur Buchvorstellung Gerhard Ludwig Müllers in Rom. Er kennt den Kardinal seit Jahren von dessen Wirken in Peru. Müller war seit Ende der 80er Jahre in den Armenvierteln von Lima seelsorgerisch tätig, außerdem wirkte er durch Vorlesungen bei der Priesterausbildung mit. Dort lernte er 1988 auch den „Vater der Befreiungstheologie“ Gustavo Gutierrez kennen und schätzen.

Müller bringe viel Erfahrung aus Peru mit in sein Amt, die Theologie der Befreiung habe den Kardinal geprägt, ist Strotmann überzeugt, und zwar…

„insgesamt dadurch, dass Theologie stark an den Problemen des Menschen geerdet wird. In der christlichen Gotteserfahrung haben wir ja eine ganz spezielle Sichtweise, weil wir den Gott kennen, der sich um Menschen kümmert, der in Sorge um Menschen lebt. Gerhard Müller hat wiederholt gesagt, dass er Gustavo Gutierrez viel zu verdanken habe, gerade was Theologie angehe. Ich glaube, da geht es darum, Menschwerdung Gottes eben nicht als reine Vergangenheit zu sehen, sondern als tägliche Herausforderung. Was ist Gottes Sorge für den Menschen heute? Das sehe ich als die Fragestellung an, die Gerhard Ludwig Müller bei Gustavo Gutierrez gelernt hat.“

Diese Erfahrungen bringt aber nicht nur Kardinal Müller mit, sie prägen auch Papst Franziskus‘ Denken und Schreiben, etwa in Evangelii Gaudium. Schon als Kardinal habe Jorge Mario Bergoglio die Nähe zu den Menschen gepflegt, das zeige sich nun auch in seiner Amtsführung als Papst. Franziskus hatte bei seinem Amtsantritt die Formulierung einer „armen Kirche für die Armen“ geprägt, die jetzt auch im Titel von Kardinal Müllers neuem Buch „Armut: Herausforderung für den Glauben“ aufscheint. Eine „arme Kirche“ – das sei eine spannende Herausforderung für die gesamte Kirche, vor Ort wie auch im Vatikan, findet der Bischof:

„Arme Kirche, das ist nicht mehr die selbstgefällige Selbstverwaltung von Besitzstandards, sondern der Versuch, Christus nachzufolgen mit dem Risiko, das nicht aus der Position des Besitzenden, sondern aus der Position dessen zu tun, der sich wie Christus ganz einfach auf den Menschen einlässt. Gerade auch auf den, der es am meisten nötig hat. Und das, glaube ich, ist eine schöne Herausforderung für die Kirche der Zukunft, es dürfte aber auch für die römische Zentralbehörde vieles an Neuigkeiten bringen, so dass wir auch da noch nicht wissen, wie es weitergehen wird. Ich bin aber guten Mutes, weil ja Franziskus angedeutet hat, dass er auf jeden Fall insistiert, dass die Mitarbeit und Mitverantwortung der Bischöfe auf Weltebene ganz neu in den römischen Alltag reinkommen soll.“ (rv)

Konsistorium: „Ein bisschen frustrierend“

barbarinGanz so geheim ist es mittlerweile nicht mehr, was der Papst letzte Woche mit seinem Kardinalskollegium alles so besprochen hat. Der deutsche Kardinal Reinhard Marx und einige andere haben von ihren Eindrücken beim „Konsistorium“ vom Donnerstag und Freitag hinter verschlossenen Türen berichtet. Wir haben noch einmal mit dem Erzbischof von Lyon, Kardinal Philippe Barbarin, gesprochen und ihn vor allem nach dem Stil des neuen Papstes gefragt. Wie ist das denn so, wenn Papst Franziskus zur Beratung in die Synodenaula des Vatikans bittet?

„Das ist ein brüderlicher Moment und gleichzeitig ein bisschen frustrierend, denn jeder spricht zwischen fünf und sieben Minuten, also hört man etwa achtzig Wortmeldungen direkt hintereinander! Es gibt keine wirklichen Diskussionen unter uns. Man spricht mit seinen Sitznachbarn, mit dem, der vor einem sitzt, dem, der hinter einem sitzt, aber sonst hat man kaum brüderliche Kontakte. Es gibt kleine Kaffeepausen, wenn man da etwas auf dem Herzen hat, stürzt man auf einen Kardinal zu und sagt: ‚Weißt du, dies und das wollte ich dir noch sagen…’ Aber das ist schon etwas heftig, an einem Nachmittag 25 Wortmeldungen am Stück zu hören!“

Papst Franziskus will das synodale Element noch stärker betonen als seine Vorgänger, und darum richten sich große Erwartungen auf die angesetzten Bischofssynoden vom Herbst 2014 und 2015. Doch die Art und Weise der Debatten in der Synodenaula hat sich, so ergibt sich aus den Bemerkungen von Kardinal Barbarin, im Vergleich zu früher noch nicht so richtig verändert.

„Man hört allen aufmerksam zu; viele haben ja wirklich neue und interessante Vorstellungen, darum macht man sich Notizen – aber alles in allem hat man da noch nicht die Formel gefunden, man muss sie weiter suchen. Also, ein gutes und brüderliches Klima, ohne Zweifel, man ist auch einfach froh, sich mal wieder zu sehen. Man braucht ja auch diese brüderlichen Kontakte untereinander, man hat sich Dinge zu sagen, lädt sich gegenseitig ein… also, es herrscht da eine gewisse Brüderlichkeit.“ (rv)

Der Methusalem des Papst-Senates

Kardinal CapovillaEr ist nicht nur mit Abstand der Älteste im Kardinalskollegium – Loris Capovilla ist auch in manch anderer Hinsicht außergewöhnlich. Der 98-Jährige war einmal – das ist fünfzig Jahre her! – der Privatsekretär von Johannes XXIII. Ende April nun wird der Roncalli-Papst heilig gesprochen, und Capovilla ist – seit dem vergangenen Wochenende – Kardinal. Im Gespräch mit Radio Vatikan scherzt der Methusalem des Papst-Senates:

„Ich grüße euch als römischer Priester! Ich bin zufrieden darüber, denn diese Tatsache, ein ‚neuer’ römischer Priester zu sein, erinnert mich an meine Berufung.“

Tatsächlich entstand das heutige Kardinalskollegium historisch aus den römischen Pfarreien und Pfarrei-ähnlichen Einheiten, Roms Priester gehörten also zu den ersten Senatoren ihres Bischofs. Kardinal Capovilla war zu alt, um zum Konsistorium nach Rom zu reisen; er hat die Kardinalserhebung am Fernseher mitverfolgt.

„Mein Eindruck von der Predigt des Heiligen Vaters (am Sonntag) war, dass er uns in ein Klima der Heiligkeit eintreten lässt. Tatsächlich wird dieses Jahr ja geprägt vom feierlichen Einschreiben Johannes XXIII. und Johannes Pauls II. ins Buch der Heiligen.“

Es sei kein „Luxus“, heilig zu sein, sondern etwas Notwendiges für das Heil der Welt, sagte Papst Franziskus in seiner Predigt. Capovilla kommentiert:

„Ich habe da an das fünfte Kapitel (des Konzilstextes) Lumen Gentium gedacht, das die Überschrift hat: Universelle Berufung zur Heiligkeit. Nicht der Priester, oder der Kardinal, oder der Bischof, oder der Mönch, sondern alle Christen – alle Männer und Frauen, die Träger von Gottes Licht sind – alle sind wir zur Nächstenliebe berufen, zur Güte, zum Dienst, zur Demut, zum Opfer. Und das soll leuchten in der Welt. Nicht umsonst hat Papst Benedikt XVI. – dem unsere ganze Verehrung gilt – gesagt, der Polarstern des XXI. Jahrhunderts müsse das Zweite Vatikanische Konzil sein. Es geht um die Hoffnung einer Gemeinschaft, die sich auf eine Zivilisation der Liebe zubewegt. Die Ansprachen von Papst Franziskus in diesen Tagen, nein: an allen Tagen, haben mich dazu inspiriert.“

Ein neuer Kardinal trete ein in die Kirche von Rom – nicht in einen Hofstaat. Diese Papstworte vom Sonntag sind von vielen Medien zitiert worden. In dem 98-jährigen Kardinal aus Norditalien sind bei diesen Worten Erinnerungen aufgestiegen.

„Ich habe an das gedacht, was mich Papst Johannes gelehrt hat. Er sagte mir: ‚Loris, sprich von der Gegenwart mit Milde und Zutrauen, verlier nie den Mut. Von der Vergangenheit sprich möglichst gut und sei denen, die vor dir kamen, dankbar für das, was sie geleistet haben, trotz der Grenzen ihrer Zeit, ihrer Bildung und Lage. Und was die Zukunft betrifft: Da mach keine Vorhersagen, das steht dir nicht zu!’ Ich erinnere mich auch an die letzten Worte von Papst Johannes, sein Testament an die Kirche, die er so sehr geliebt hat: Er sagte, um Christ zu sein, müsse man groß denken und weit sehen. Das ist mein Wunsch… Ich habe sehr wenig geleistet in meinem Leben, ich fühle mein ganzes Kleinsein. Aber mit Jesus werde auch ich zu jemandem. Im Namen Jesu kann auch ich in das Haus eines Kranken gehen und sagen ‚Steh auf und geh!’ Im Namen Jesu kann auch ich Gift trinken oder in einem entchristlichten Umfeld leben, ohne dass ich vergiftet werde, denn ich entgifte mich durch das Gebet… Jesus hat mir gesagt, dass ich mit seiner Hilfe alle Sprachen sprechen kann: Sie fließen zusammen in der Sprache der Liebe.“

Capovilla wurde am 14. Oktober 1915 in der Nähe von Padua geboren; ab 1953 war er Sekretär von Angelo Giuseppe Roncalli, der zunächst Patriarch von Venedig und ab 1958 Papst war. Nach dem Tod des Papstes 1963 wurde Capovilla Erzbischof; seit Ende der achtziger Jahre wohnt er im Geburtsort Johannes XXIII., er hat viele Bücher über ihn geschrieben oder herausgegeben.  (rv)