125 Jahre Deutsches Historisches Institut Rom

DHIDas Deutsche Historische Institut in Rom feiert in diesem Jahr sein 125-jähriges Bestehen. Begonnen hat alles 1888, damals noch unter dem Namen „Preußische Historische Station". Preußen, damals der größte deutsche Staat, hatte beschlossen, selbstständig ein Institut zur Geschichtsforschung zu gründen, da sich das Deutsche Reich nicht hatte einigen können.

„Unmittelbarer Anlass und Energiequelle sozusagen war die Öffnung des Vatikanischen Geheimarchivs durch Papst Leo XIII."

Bereits 1881 hatte Papst Leo das Geheimarchiv öffnen lassen. Martin Baumeister, den wir gerade hörten, ist der aktuelle Leiter des Deutschen Historischen Instituts in Rom. Die Aufgaben der Einrichtung haben sich seit 1881 natürlich enorm ausgeweitet; sie gehen heute über die intensive Erforschung und Zugänglichmachung der Reichtümer des Vatikanischen Archivs weit hinaus. Aber, sagt Baumeister:

„Die Arbeiten, die damals initiiert wurden, bestimmen zum Teil heute noch unser Alltagsgeschäft, das ist die sogenannte Grundlagenforschung in der Erstellung von Findmitteln und großen Editionen. Traditionell stand im Mittelpunkt die Forschung im Bereich der mittelalterlichen Geschichte, zum Teil auch in der Frühneuzeit, seit den 60er vor allen Dingen 70er Jahren hat man den Schwerpunkt auf die Faschismusforschung verlagert, auf die Zeit des Zweiten Weltkrieges. Und damit verbunden war auch eine starke Öffnung im Bereich der Neuesten Geschichte hin zur europäischen Geschichte."

Natürlich wird zu einem solch großen Jubiläum auch gefeiert. Mit dabei war beim 125-Jahre-Festakt des Deutschen Historischen Instituts an diesem Montag der Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf, einer der renommiertesten Geschichtswissenschaftler Deutschlands. Wolf, ein katholischer Priester, erforscht seit vielen Jahren die Quellen des Vatikanischen Archivs. An ihn die Frage: Was darf man sich unter diesen so geheimen Quellen überhaupt vorstellen?

„100 laufende Kilometer Akten mit ganz unterschiedlichen Quellentypen. Sie können eine mittelalterliche Urkunde haben, Sie können aber auch einen Brief haben. Ein Beispiel: Wenn Edith Stein, inzwischen heilig gesprochen, 1933 noch eine kleine Dozentin in Münster, Edith Stein ist ja eine zum Katholizismus konvertierte Jüdin, wenn die dem Papst schreibt und ihn bittet, er soll reden für die verfolgten Juden, dann haben Sie so einen schreibmaschinengetippten Brief, den Sie dort erstmals in die Hand nehmen können, erstmals lesen, was hat die eigentlich geschrieben."

Zu den Quellen zählen auch die vielen Nuntiaturberichte der Botschafter des Heiligen Stuhls in den Ländern der Welt. Für Deutschland besonders interessant: Die Berichte von Eugenio Pacelli, dem späteren Papst Pius XII. Er war zwölf Jahre lang, von 1917 bis 1929, Nuntius in Deutschland.

„Und in diesen zwölf Jahren hat er etwa sechseinhalbtausend Briefe, Berichte an den Kardinal Staatssekretär aus Deutschland geschrieben. Das heißt Sie haben einen ungeheuer dichten Blick aus einer Perspektive, nämlich des apostolischen Nuntius in Deutschland auf Deutschland. Und zwar nicht nur auf die Situation der Kirche, auf Bischöfe, auf Priester, auf Gottesdienstbesuch und so weiter. Sondern auf die Kultur. Was ist Berlin der Goldenen Zwanziger, wie sieht er eigentlich die Sozialdemokratie, was passiert in Deutschland in der Räterepublik, Hitlerputsch?"

Urkunden, Akten, Korrespondenzen, Nuntiaturberichte, aber auch Nachlässe berühmter Personen finden sich also unter den Quellen des Vatikanischen Archivs. Hubert Wolf forscht mit vielen weiteren Wissenschaftlern zur Zeit an zwei großen Projekten:

„Einerseits eben die Edition dieser Nuntiaturberichte von Pacelli im Internet: -da hat jeder einen Zugriff zu diesen Quellen, das ist ganz wichtig, auch für das Vatikanische Archiv wichtig, dass diese Quellen allgemein zugänglich werden, um sich selber ein Urteil zu bilden. Und das andere ist eben eine Erschließung des Archivs der Inquisition und der Indexkongregation zur Buchzensur. Wir machen also eine Buchzensurgeschichte von 1542 bis 1966. Alle Bücher, die jemals in Rom angezeigt, verhandelt, verboten, freigesprochen worden sind, können Sie in unserer Arbeit finden. Das Projekt ist bald zu Ende in zwei Jahren."

Der Kirchenhistoriker Wolf möchte vor allen Dingen auch betont haben, dass das Vatikanische Geheimarchiv so geheim gar nicht ist. Auch der Zugang zu den Quellen nicht so schwer, wie die gängigen Vorurteile immer glauben machen wollen.

„Wenn die Quellen zugänglich sind, findet Zensur nicht statt. Allen anderen Unkenrufen zum Trotz. Und das ist auch nur die Berechtigung für so ein Institut. Wenn wir jetzt immer damit rechnen müssten, der Vatikan würde bestimmte Quellen vorenthalten, wäre wissenschaftliches Arbeiten nicht möglich. Und das ist definitiv nicht der Fall. Das ist ein ganz offenes Archiv." (rv)

Vorhof der Völker in Berlin: „Der Kalte Krieg ist zu Ende“

RavasiEndlich eine echte Debatte und nicht nur ein feierliches Aneinander-Vorbei-Reden wie so oft bei italienischen Ausgaben des „Vorhofs der Völker"! Das sagte einer der Organisatoren der Gesprächsinitiative nach den ersten Stunden des Berliner „Vorhofs"; er war rundum zufrieden. Nicht immer komme man so schnell hinein in den Dialog zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden. Tatsächlich waren im Festsaal des Roten Rathauses am Dienstagabend auch viele deutliche Worte gefallen. So nannte etwa der Philosoph Herbert Schnädelbach, nach eigener Aussage ein „frommer Atheist", das Motto der ersten Gesprächsrunde „absurd" und „intellektuelle Panikmache".

Dieses Motto war einem Werk von Dostojewski entlehnt und lautete: „Wenn es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt." Kardinal Gianfranco Ravasi vom Päpstlichen Kulturrat, der das Zitat ausgewählt hatte, räumte ein, es sei tatsächlich „provozierend".

„Freilich breitet sich in unseren Tagen immer stärker eine Art Nebel aus, der sowohl die echte Religion als auch den eindeutigen, strengen Atheismus verschwimmen lässt und umhüllt. Dabei handelt es sich eher um ein soziologisches als ein weltanschauliches Phänomen: es ist die Gleichgültigkeit, die Oberflächlichkeit, Banalität, sarkastischer Spott. In dieser Stimmung herrscht oft der Mythos über den Logos, das Pamphlet ersetzt den analytischen Aufsatz, die fundamentalistische Lesart ist stärker als das kritische Abwägen der Positionen… Diesen echten Erkrankungen sowohl des Unglaubens als auch der Religion kann, so meine ich, der Dialog eine Erwiderung anbieten!"

Kardinal Ravasi sprach von „zwei unterschiedlichen Lehren vom Menschen, zwei unterschiedlichen existenziellen Wegen, zweierlei Humanismen": Der eine „mit Gott" und der andere ohne Gott. Nichtgläubige hätten ihren Bezugspunkt „im Individuum, im Subjekt, das seine eigene ethische Ordnung sucht"; religiöse Menschen hingegen glaubten, „dass die Wahrheit, die Natur, die sittliche Ordnung uns vorausgehen und uns übersteigen". Der „Vorhof der Völker" gehöre nach Berlin, weil die deutsche Hauptstadt in gewisser Hinsicht eine „spirituelle Wüste" sei. Dem widersprach heftig Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit: Es gebe zwar eine religions- und konfessionslose Bevölkerungsmehrheit in der Stadt, aber gleichzeitig über 250 aktive Religionsgemeinschaften, das mache sie zur „religiös vielfältigsten in Europa". „Gottlos ist Berlin also sicher nicht." Dass Berlin aber allemal der richtige Schauplatz für den deutschen „Vorhof der Völker" ist, darin waren sich alle einig, auch der frühere Bundespräsident Horst Köhler.

„Berlin ist ein guter Ort für diesen Dialog. Das gilt zum einen für die Berliner selber, zum anderen aber brauchen wir diesen Dialog für die Welt. Es gibt nun einmal unterschiedliche Auffassungen über Religion, über Gerechtigkeit oder Wahrheit; wir brauchen den Dialog, wo unterschiedliche Auffassungen aufeinanderprallen und über diese Unterschiedlichkeit deutlich geredet wird. Ich bin sehr dankbar dafür, dass der Kardinal hier ist, und nehme es als eine Ermunterung, darauf aufzubauen."

Beim „Vorhof der Völker" „kommt zusammen, was zusammen gehört", formulierte Berlins Kardinal Rainer Maria Woelki angelehnt an ein berühmtes Willy-Brandt-Zitat: „Glaubende und Nicht-Glaubende versammeln sich an einem Ort, um über Themen zu sprechen, die alle gleichermaßen angehen, um über die Frage nach der Wahrheit und der Freiheit zu ringen." Angepeilt sei „eine Auseinandersetzung auf Augenhöhe, die die jeweils andere Position ernst nimmt." Der „kalte Krieg" zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen sei „vorbei", so der Hauptstadterzbischof.

„Unser christlicher Glaube lebt aus eigenen Freiheitserfahrungen – individuellen und gemeinschaftlichen – und ist ein Glaube, der uns zu Gottsuchern macht, die das Gespräch mit jenen Nichtglaubenden suchen, die die Gottesfrage nicht einfach gleichgültig lässt und die am gemeinsamen Wohl der Stadt Berlin, der Hauptstadt unseres Landes Interesse haben."

Vor allem Protestanten – Fichte, Schleiermacher, Hegel – haben im 19. Jahrhundert in Berlin über Religion, Gott und den Menschen nachgedacht. Darum war es auch ein Protestant, der Kirchenhistoriker Christoph Markschies von der Humboldt-Universität, der die erste Debatte des „Vorhofs" moderierte. Konturen wurden da schnell sichtbar: Auch wenn es Gott nicht gäbe, dürfe doch noch keiner über die rote Ampel fahren, meinte der Philosoph Herbert Schnädelbach, Normen gälten also auch ganz ohne Bezug auf Gott. Und dem Soziologen Hans Joas waren die Begriffe – „Gott, Religion, Nichtglaubende" – zu „groß" und zu unbestimmt, um sie in einer solchen Debatte ständig im Munde zu führen.

„Selbst der Begriff Christentum ist viel zu groß, wir sehen da eine enorme Heterogenität. Ich denke, auf diesem Gebiet steigt das Niveau, wenn die Abstraktionsebene sinkt. Also, dass wir mehr reden sollten über konkrete Menschen, die glauben."

Joas kritisierte auch den Titel „Vorhof der Völker": Sicher sei diese Metapher gut gemeint, und der biblische Bezug sei ja auch klar, aber „Vorhof" klinge doch ausgrenzend, so als hätten Gläubige einen Sonderbereich für sich, als hätten sie die ganze Wahrheit und die anderen nicht. „Mit dieser Metapher kann man nicht gleichzeitig behaupten, dass man einen Dialog auf Augenhöhe will."

Der berührendste Moment der Debatte war es, als sich der Skeptiker Schnädelbach zu „religiösen Erfahrungen" bekannte: Ja, die habe er auch schon gemacht, aber er bringe sie eben nicht mit dem biblischen Gott in Verbindung. Das Gespräch im „Vorhof der Völker" ist schnell in Gang gekommen. (rv)

Papstschreiben Evangelii Gaudium: Eine Zusammenfassung

Vatikanisches Dokument„Die Freude des Evangeliums erfüllt das Herz und das gesamte Leben derer, die Jesus begegnen:" So beginnt die Apostolische Exhortation „Evangelii Gaudium", mit der Papst Franziskus das Thema der Verkündigung der Frohen Botschaft in der Welt von Heute entwickelt. Dazu zieht er unter anderem die Arbeiten der Bischofssynode heran, die vom 7. bis zum 28. Oktober 2012 im Vatikan zum Thema der Neuevangelisierung getagt hatte. Die Exhortation ist aber keine „postsynodale", sich also ausschließlich auf diese Synode beziehender Text. Er habe sich auch Rat geholt, um seine eigenen „Besorgnisse zum Ausdruck zu bringen, die mich in diesem konkreten Moment des Evangelisierungswerkes der Kirche bewegen" (16). Der Papst benennt auch die Grenzen, die er sich selbst und seinem Schreiben setzt: Vom päpstlichen Lehramt dürfe man keine „endgültige oder vollständige Aussage zu allen Fragen" erwarten. Es sei nicht angebracht, die Ortsbischöfe in der Bewertung aller Probleme zu ersetzen. „In diesem Sinn spüre ich die Notwendigkeit, in einer heilsamen „Dezentralisierung" voranzuschreiten." (16).

„In diesem Schreiben möchte ich mich an die Christgläubigen wenden, um sie zu einer neuen Etappe der Evangelisierung einzuladen, die von dieser Freude geprägt ist, und um Wege für dem Lauf der Kirche in den kommenden Jahren aufzeigen." (1) Der Papst wendet sich an alle Getauften, er spricht von einem „Zustand permanenter Mission" (25), in den wir uns versetzen müssen, um allen Menschen die Liebe Gottes zu bringen und die große Gefahr zu vermeiden, in der die Welt heute lebt: Die individualistische Traurigkeit, wie Papst Franziskus es nennt, eine Verbindung von Begehren, Oberflächlichkeit und innerer Abgeschottetheit (2).

Verkündende Dynamik

„Neue Wege" und „kreative Methoden" sollen dazu dienen, die „ursprüngliche Frische der Frohen Botschaft" neu zu erschließen. Jesus soll aus den „langweiligen Schablonen" befreit werden, in die wir ihn gepackt haben (11). Zwei Dinge braucht es dazu. Erstens den „Weg einer pastoralen und missionarischen Neuausrichtung (…), der die Dinge nicht so belassen darf wie sie sind" (25), zweitens eine Reform der Strukturen der Kirche.

Papst Franziskus denkt dabei auch an eine „Reform des Papsttums", weil er dazu berufen sei, das zu leben, was er von anderen verlange (32). Auch sein Amt müsse immer mehr der Bedeutung treu werden, die Christus ihm geben wollte. Das Papsttum müsse „mehr den gegenwärtigen Notwendigkeiten der Evangelisierung" entsprechen (32). In diesem Zusammenhang lenkt Franziskus den Blick auf die Ortskirchen, konkret auf die Bischofskonferenzen, die „Subjekte mit konkreten Kompetenzbereichen (…) einschließlich einer gewissen authentischen Lehrautorität" werden sollten, so wie es das Zweite Vatikanische Konzil gewünscht habe. „Eine übertriebene Zentralisierung kompliziert das Leben der Kirche und ihre missionarische Dynamik, anstatt ihr zu helfen." (32) Man dürfe keine Angst haben, Dinge anzugehen, die zwar historisch gewachsen seien, aber nicht direkt mit dem Evangelium zusammen hingen (43).

Ein Zeichen für die Annahme Gottes sei es, überall offene Kirchen zu haben. Menschen auf der Suche ertrügen nicht die „Kälte einer verschlossenen Tür". „Auch die Türen der Sakramente dürften nicht aus irgendeinem beliebigen Grund geschlossen werden", so Franziskus (47), was besonders für die Taufe gelte. Die Eucharistie sei „nicht eine Belohnung für die Vollkommenen, sondern ein großzügiges Heilmittel und eine Nahrung für die Schwachen." (47) Das habe auch postorale Konsequenzen, so der Papst weiter, und man müsse diese „mit Besonnenheit und Wagemut" angehen. Noch einmal betont Franziskus: „Mir ist eine ‚verbeulte’ Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Straßen hinausgegangen ist, lieber, als eine Kirche, die aufgrund ihrer Verschlossenheit und ihrer Bequemlichkeit, sich an die eigenen Sicherheiten zu klammern, krank ist." (49)

Gefahren der Weltlichkeit

Papst Franziskus weist in seinem Schreiben auf die Versuchungen für die Seelsorger und Hirten hin: Individualismus, Krise der Identität oder Rückgang des Eifers (78). Die größte Gefahr aber sei der „graue Pragmatismus des kirchlichen Alltags, bei dem scheinbar alles mit rechten Dingen zugeht, in Wirklichkeit aber der Glaube verbraucht wird und ins Schäbige absinkt", zitiert Franziskus Kardinal Joseph Ratzinger (83). Man solle Zeichen der Hoffnung sein und nicht in einen sterilen Pessimismus absinken (84, 86), um eine „Revolution der zärtlichen Liebe" zu erreichen (88). Zu oft fliehe man in eine „’Spiritualität des Wohlbefindens’ ohne Gemeinschaft" oder eine „’Theologie des Wohlstands’ ohne brüderlichen Einsatz" (90), in denen die geistliche Weltlichkeit die Oberhand gewinne. Diese Weltlichkeit suche immer nur das eigene Wohl und nicht Gott (93).
Papst Franziskus spricht von denen, die sich für etwas Besseres halten, die einem überholten Stil von Katholizismus anhingen, die sich einer übertriebenen Pflege der Liturgie verschreiben, die gesellschaftliche Anerkennung suchen, die zu Funktionären werden. Papst Franziskus zählt die Versuchungen auf, die alle den einen Kern hätten: Hier fehlt Christus (95). „Es ist eine schreckliche Korruption mit dem Anschein des Guten. Man muss sie vermeiden, indem man die Kirche in Bewegung setzt, dass sie aus sich herausgeht, in eine auf Jesus Christus ausgerichtete Mission, in den Einsatz für die Armen." (97)

Papst Franziskus appelliert an die Gemeinschaft der Kirche, nicht in gegenseitigen Neid und Gegnerschaft zu verfallen – „Wie viele Kriege innerhalb des Gottesvolkes und in den verschiedenen Gemeinschaften!" (98) Der Schmerz derer, die unter Verwundungen leiden, soll nicht übergangen werden, aber trotzdem stelle sich beim Betrachten der Auseinandersetzungen die Frage: „Wen wollen wir mit diesem Verhalten evangelisieren?" (100)

Die Rolle der Laien

Franziskus unterstreicht die Notwendigkeit, die Verantwortung der Laien für die Kirche zu stärken. Teils durch mangelnde Ausbildung, teils durch „ausufernden Klerikalismus" spielten die Laien nicht die Rolle, die sie spielen sollten. Auch müssten die „Räume für eine wirksamere weibliche Gegenwart in der Kirche noch erweitert werden", vor allem dort, wo die wichtigen Entscheidungen fielen. (92,93) „Die Beanspruchung der legitimen Rechte der Frauen (…) stellt die Kirche vor tiefe Fragen, die sie herausfordern und die nicht oberflächlich umgangen werden können". (104) Im gleichen Zusammenhang stellt Papst Franziskus aber noch einmal fest, dass das den Männern vorbehaltene Priestertum nicht zur Diskussion stehe, aber „Anlass zu besonderen Konflikten geben (kann), wenn die sakramentale Vollmacht zu sehr mit der Macht verwechselt wird" (104). Auch die Jugendlichen müssten eine größere Rolle in der Kirche spielen, so der Papst weiter (106).

Der Papst geht auch auf die Fragen des Zusammenhanges von Glaube und Kultur ein, die unter dem Begriff der ‚Inkulturation’ zusammengefasst werden. Die Kirche verfüge nicht über ein einziges kulturelles Modell. Vielmehr drücke sich die „authentische Katholizität … in der Verschiedenheit aus" (116). Die Kirche könne nicht erwarten, dass die gesamte Welt das Modell übernähme, das sich in der Geschichte Europas herausgebildet hätte (118): „Die Kultur ist etwas Dynamisches, das von einem Volk ständig neu erschaffen wird" (122). Hier sei besonders die Volksfrömmigkeit von Bedeutung, so Franziskus, „in der der empfangene Glaube in einer Kultur Gestalt angenommen hat und ständig weitergegeben wird" (123). Um diese Weitergabe fruchtbar zu machen, ruft der Papst die Theologen auf, den Dialog und die Begegnung zu fördern und zu reflektieren. „Doch ist es für diese Aufgabe nötig, dass ihnen die missionarische Bestimmung der Kirche und der Theologie selbst am Herzen liegt und sie sich nicht mit einer Schreibtisch-Theologie zufrieden geben." (133)

Gerechtigkeit und Menschlichkeit

„In der Wurzel ungerecht" nennt Papst Franziskus das aktuelle ökonomische System (59). Diese Form der Wirtschaft töte, denn in ihr herrsche das Gesetz des Stärkeren. Der Mensch sei nur noch als Konsument gefragt, und wer das nicht leisten könne, der werde nicht mehr bloß ausgebeutet, sondern ausgeschlossen, weggeworfen. Diese Kultur des Wegwerfens habe etwas Neues geschaffen. „Die Ausgeschlossenen sind nicht „Ausgebeutete", sondern Müll, „Abfall"." (53) Die Welt lebe in einer neuen Tyrannei des „vergötterten Marktes", die manchmal sichtbar, manchmal virtuell sei. Hier regiere die Finanzspekulation, die Korruption und Egoismen, die sich etwa in Steuerhinterziehung ausdrückten (56).

Franziskus weist auch auf Angriffe auf die Religionsfreiheit hin, auf die „neuen Situationen der Christenverfolgung, die in einigen Ländern alarmierende Stufen des Hasses und der Gewalt erreicht haben." (61)

Auch die Familie durchlaufe eine tiefe kulturelle Krise, so Franziskus. Sie sei der Ort des Lernens, mit Verschiedenheiten umzugehen und zu reifen, werde aber „tendenziell als eine bloße Form affektiver Befriedigung gesehen" (66). Dagegen zerstöre „der postmoderne und globalisierte Individualismus" die Bindungen zwischen Menschen und die Familienbande. (67)

Der Papst betont die Verbindung zwischen der Verkündigung und der Förderung der Menschlichkeit, „die sich notwendig in allem missionarischen Handeln ausdrücken und entfalten muss" (178). Man könne von der Kirche nicht erwarten, dass sie den Glauben ins Privatleben verlege und so keinen Einfluss mehr habe auf das soziale Zusammenleben. „Wer würde es wagen, die Botschaft des heiligen Franz von Assisi und der seligen Teresa von Kalkutta in ein Gotteshaus einzuschließen und zum Schweigen zu bringen?" (183) Franziskus zitiert an dieser Stelle Papst Johannes Paul II.: Die Kirche könne nicht abseits stehen, wenn es um das „Ringen um Gerechtigkeit" geht.

Die Armen seien für die Kirche zuerst eine theologische Kategorie, dann erst eine soziologische oder politische. „Aus diesem Grund wünsche ich mir eine arme Kirche für die Armen." (198) Jede Gemeinschaft in der Kirche, welche die Armen vergesse, stehe in der „Gefahr der Auflösung" (207), weil das religiöse Tun fruchtlos werde und in einer „spirituellen Weltlichkeit" aufgehe.

Papst Franziskus lädt zu einer Sorge um die Schwächsten ein: Die Kirche müsse den „neuen Formen von Armut und Hinfälligkeit – den Obdachlosen, den Drogenabhängigen, den Flüchtlingen, den eingeborenen Bevölkerungen, den immer mehr vereinsamten und verlassenen alten Menschen usw." Aufmerksamkeit schenken. Mit Blick auf Migranten ruft der Papst zu einer „großherzigen Öffnung auf, die, anstatt die Zerstörung der eigenen Identität zu befürchten, fähig ist, neue kulturelle Synthesen zu schaffen." (210)

Ein brennendes Thema seien auch die neuen Formen der Sklaverei, die unsere Gesellschaft hervorbringe, so der Papst. Die neuen Sklaven seien diejenigen, die wir jeden Tag umbrächten durch Arbeit in illegalen Fabriken, im Netz der Prostitution, in den zum Betteln missbrauchten Kindern. „Es gibt viele Arten von Mittäterschaft. Die Frage geht alle an! Dieses mafiöse und perverse Verbrechen hat sich in unseren Städten eingenistet, und die Hände vieler triefen von Blut aufgrund einer bequemen, schweigenden Komplizenschaft." (211)

Zu den Schwächsten, derer sich die Kirche annehme, gehörten auch die ungeborenen Kinder, denen die Würde des menschlichen Lebens verweigert würde (213). In diesem Punkt werde die Kirche gerne ins Lächerliche gezogen, indem man „ihre Position häufig als etwas Ideologisches, Rückschrittliches, Konservatives" darstelle. Doch sei die Verteidigung des ungeborenen Lebens eng mit der Verteidigung jedes beliebigen Menschenrechtes verbunden. Die Kirche werde ihre Einstellung in der Frage der Abtreibung nicht ändern, stellte der Papst klar. Der Schutz des ungeborenen Lebens sei keine Frage der „Modernität", der sich die Kirche anpassen müsste. Wahr sei aber auch, „dass wir wenig getan haben, um die Frauen angemessen zu begleiten, die sich in sehr schweren Situationen befinden", etwa nach Vergewaltigungen: „Wer hätte kein Verständnis für diese so schmerzlichen Situationen?" (214).

Dialog

Die Verkündigung impliziere den Weg des Dialogs, so der Papst. Dieser Weg öffne die Kirche für die Zusammenarbeit mit politischen, sozialen, religiösen und kulturellen Institutionen und Gruppen (238). Hier hinein gehört auch die Ökumene, die ein unaufgebbarer Teil der Verkündigung sei, die Spaltung der Christen verhindere das glaubwürdige Zeugnis. Außerdem könnten die Christen viel voneinander lernen, Franziskus weist hier auf die orthodoxen Kirche und ihre Tradition der Synodalität hin" (246).

Der Dialog und die Freundschaft mit den Kindern Israels sei ebenfalls ein Teil des Lebens der Jünger Jesu (248). Auch der interreligiöse Dialog, geführt mit einer „klaren und freudigen Identität", sei eine notwendige Bedingung für den Frieden in der Welt und verdunkle die christliche Verkündigung keineswegs (250,251). Demütig bitte er die Länder mit islamischer Tradition darum, „in Anbetracht der Freiheit, welche die Angehörigen des Islam in den westlichen Ländern genießen, den Christen Freiheit zu gewährleisten, damit sie ihren Gottesdienst feiern und ihren Glauben leben können." (253)

Verkündiger im Heiligen Geist

Im Abschlusskapitel spricht Papst Franziskus von den Evangelisatoren, die sich dem Handeln des Heiligen Geistes öffnen. „Der Heilige Geist verleiht außerdem die Kraft, die Neuheit des Evangeliums mit Freimut (parrhesía) zu verkünden, mit lauter Stimme, zu allen Zeiten und an allen Orten, auch gegen den Strom." (259). Dies seien Verkünder, die beteten und arbeiteten, sie seien überzeugt, dass „die Mission (…) eine Leidenschaft für Jesus (ist), zugleich aber eine Leidenschaft für sein Volk." (268) Eingeladen, Zeugnis abzulegen für den Grund unserer Hoffnung würden sie das nicht als Feinde tun, die verurteilten (271). Der Papst ermutigt: „Da wir nicht immer diese aufkeimenden Sprossen sehen, brauchen wir eine innere Gewissheit und die Überzeugung, dass Gott in jeder Situation handeln kann, auch inmitten scheinbarer Misserfolge, denn ‚diesen Schatz tragen wir in zerbrechlichen Gefäßen’ (2 Kor 4,7)." (279)

Die Exhortation schließt mit einem Mariengebet, „denn jedes Mal, wenn wir auf Maria schauen, glauben wir wieder an das Revolutionäre der Zärtlichkeit und der Liebe." (288) (rv)

Zum Originaltext: > > > Evangelii Gaudium